Re: Pop Crimes: Jan Lustiger denkt laut über Platten nach.

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jan-lustiger

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Um die Frequenz meiner Blogbeiträge zu erhöhen, habe ich heute die Rubrik „Kurzreview“ eingeführt. Der erste Text daraus beschäftigt sich mit dem gestern Abend veröffentlichten Benefiztrack PJ Harveys. (Ha! So aktuell war Pop Crimes noch nie!)

PJ Harvey – Shaker Aamer [Track, 2013]

PJ Harveys erstes musikalisches Lebenszeichen seit ihrer zu Recht umjubelten, brillanten 2011er LP Let England Shake ist erneut politisch geprägt: Für die Menschenrechtsorganisation Reprieve veröffentlicht sie einen Benefiztrack für den trotz bereits 2007 fallen gelassener Anklage immer noch in Guantánamo inhaftierten Shaker Aamer, dessen Namen auch der Song trägt. Wieder singt sie in hoher Stimmlage über eine mit viel Hall belegte Gitarrenspur und wechselt in der Klimax ins Falsett. In einem entscheidenden Aspekt aber unterscheidet sich Shaker Aamer von Let England Shake: Es ist eine direkte Stellungnahme.

Auf Let England Shake inszenierte sich Harvey eben nicht als Protestsängerin sondern als Beobachterin in Tradition der mittelalterlichen Volkssänger, die in ihren Liedern von in der Ferne stattfindenden Kämpfen und Kriegen berichteten. Dem Album wohnt eine neutrale Distanz inne, durch die die Bilder, die seine Songs zeichnen, erst ihre bedrückende Wirkungskraft entwickeln. „I’ve seen soldiers fall like lumps of meat / blown and shot out beyond belief / Arms and legs were in the trees“ singt Harvey in The Words That Maketh Murder, „There are no trees to sing from / Walker cannot hear the wind / Far off symphony / to hear the guns beginning“ in Hanging in the Wire. Ihre Sprache ist ungeschönt, aber elegant. Sie lockt den Hörer aus der Reserve und schnürt ihm die Kehle zu. In seiner Objektivität entwickelt Let England Shake seine vereinnehmende Wirkung. Es affektiert und sensibilisiert ohne den sprichwörtlichen erhobenen Zeigefinger, dessen moralisierende Art einem Großteil politisch-ambitionierter Popmusik jegliche Klasse nimmt.

Shaker Aamer fehlen diese Qualitäten. Gerade für Harvey-Verhältnisse sind die Lyrics seltsam ungelenk. Die abgenutzte rhetorische Frage „Am I dead or am I alive?“ 2013 in einem Songtext zu stellen, ist fast schon etwas dreist. Die Unbeholfenheit der Zeile „With metal tubes we are force fed / I honestly wish I was dead“ wird ebenso zum Stolperstein wie der Stating-the-obvious-Nichtreim „The guards just do what they’re told / The doctors just do what they’re told“ – als liege das Potential für einen politischen Skandal bereits darin, dass Staatsdiener Befehle befolgen. So bleibt der Track trotz seiner unmittelbaren politischen Färbung im Ausdruck farblos. Dabei ist es der effektive Einsatz des genau umgekehrten Szenarios, der PJ Harvey zu einer der besten Songwriterinnen nicht nur ihrer Generation gemacht hat.

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