Re: Pop Crimes: Jan Lustiger denkt laut über Platten nach.

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jan-lustiger

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St. Vincent – Strange Mercy [2011]

Inmitten einer Menschenmenge steht ein hübsches, schüchternes Mädchen und spielt Gitarre. Sie ist eine äußerst versierte Gitarristin, flink und punktgenau, alle sind begeistert. Doch auf einmal nimmt sie das Instrument in beide Hände, mit einem Lächeln auf den Lippen zerschlägt sie die Gitarre. Geschockt stehen die Zuschauer um sie herum, einige überlegen, ob das jetzt eine Hommage an Pete Townshend war oder die Gitarristin Aggressionsprobleme hat. Beides ist falsch. Es ist einfach ihre Art, mit dem Instrument umzugehen. Und warum sich auf versiertes Gitarrenspiel beschränken, wenn man auf andere Art so viel mehr Emotionen aus dem Ding herausholen kann?

Nun ist diese Allegorie etwas gewagt, weil das Zerschlagen einer Gitarre ein uraltes Rock-Klischee ist und Klischee das letzte, was eine St. Vincent-Platte ausmacht. Konzentrieren wir uns darum auf das, was es ist, wenn man diese Vorbelastung außen vor lässt: die Zelebrierung von Destruktion. Und an eben der hat St. Vincent alias Annie Clark größten Spaß, ebenso wie an der Konstruktion dessen, was sie zerstört.

Surgeon (live)

Das Spiel mit der Schönheit und der Zerschlagung derselben hat die New Yorkerin im Laufe ihrer drei LPs immer weiter auf die Spitze getrieben. Waren diese beiden Lager auf dem Vorgänger Actor zwar auch bereits aufreibend gegeneinander ausgespielt, so blieben sie doch nahe genug beieinander, um eine Einheit zu bilden: Die Schönheit ist von Anfang an bereits seltsam genug, um nicht allzu stark aus ihrem Element geworfen zu werden, wenn die Destruktion einsetzt, während letztere sich näher an den Vorgaben ersterer orientiert. Das Ergebnis sind Tracks, die von unkonventioneller Homogenität geprägt sind.

Strange Mercy hingegen begeht den Bruch konsequent, sodass die beiden Konterparts sich vordergründig sehr viel mehr Entfaltungsraum lassen. Das Ergebnis ist eine größere Distanz, die den Aufprall umso brutaler werden lässt. Annie Clark ist eine Architektin, die damit begonnen hat, schräge Häuser zu bauen und in diese von Anfang an Lücken einzupflegen, bis sie aufgrund dieser Mängel in sich zusammenstürzen. Auf Strange Mercy baut sie glorreiche Paläste, um sie danach mit Genuss wieder einzureißen.

Am Konstruktionsvorgang dieser Paläste lässt sie den Hörer teilhaben. Viele Tracks beginnen fragmentarisch, etablieren ein Kernthema, auf das im weiteren Verlauf aufgebaut wird, textlich wie musikalisch. Während seiner Repetition, einem der grundlegendsten Stilmittel des Pop, wird es weiter ausgebaut, bis eine gefüllte Fläche steht, die oft genug später zur Angriffsfläche wird. Sind die Fragmente erst einmal stark genug ausgebaut, um auf eigenen Füßen stehen zu können, kommt schon die Abrissbirne. Etwa in Form eines bereits bekannten Themas – oft ist es das Leitmotiv –, das immer weiter alteriert und entfremdet wird. Ein fester Bestandteil, der sich verformt, bis er dem Gesamtkonstrukt plötzlich zum Verhängnis wird. As intended by its constructor.

Northern Lights

Dieser in seiner Analyse viel über die Herangehensweise der Künstlerin aussagende Trick ist nicht der einzige, den Annie Clark in ihrem Spiel mit Pop und Selbstsabotage auffährt. Die Mischung aus häufig bis ins Unkenntliche entstellten Gitarren-Riffs, wummernden, elektronischen Bässen und Noise-Collagen ist für sich genommen schon eine eigene Hausnummer. Annie Clarks Gesang spielt in dieser Mischung eine besonders interessante Rolle: Ihre Stimme ist nicht besonders gewöhnungsbedürftig, eher noch als lieblich zu beschreiben. Das kann sie einerseits nutzen, um auf den oben beschriebenen Brucheffekt hinzuarbeiten. Kommt der Bruch allerdings, wechselt der Gesang seine Funktion, ohne sich selbst zu verändern. Statt sich etwa vom Chaos treiben zu lassen, bleibt Clark weiter bei ihrer Melodieverliebtheit. Dadurch wirkt sie erst richtig verrückt, denn mit dem Lärm mitzuschreien, das wäre ja die logischere Reaktion.

Und dann sind da noch die Momente, in denen der „Weird Pop“ von St. Vincent einem seiner beiden Bestandteile – dem „weird“ oder dem „Pop“ – mehr Raum zugesteht. Der Opener Chloe in the Afternoon etwa (titelgebend ist hier der Éric Rohmer-Film Love in the Afternoon von 1972) grüßt mit einem leisen Säuseln, das sofort von einer dissonanten Gitarre zerrissen wird. Dieser Grundtenor bleibt dem Stück erhalten. Cruel hingegen ist ein catchy Pop-Song, dem durch ungewöhnliche Sounds die Unschuld genommen wird, die im Text ohnehin einen fragwürdigen Platz einnimmt („Forgive the kids / for they don’t know how to live“).

Cruel

In ihren Lyrics besucht Clark Charaktere, deren Leben eine Wendung abseits der offenen Norm genommen hat oder unmittelbar davor steht, das zu tun, und spielt mit ihren Ängsten. Da wäre der Freier aus Chloe in the Afternoon, der seine Nachmittage einer Domina schenkt, oder die alleinerziehende Mutter, die in Strange Mercy ihren Sohn im Gefängnis besucht – eine Geschichte, die dadurch dass sie aus dem streng subjektiven Blickwinkel der Mutter erzählt wird, die gängige Gut-und-Böse-Betrachtungsweise verwischt („If I ever meet / the dirty policeman / who roughed you up / No, I don’t know what“) –, während der angesichts der Finanzkrise in Furcht vor Existenzzusammenbruch lebende Kapitalist in Year of the Tiger sein Leid klagt („My kingdom for a cup of coffee / living in fear in the year of the tiger“).

Feministische Untertöne tragen einige der Stücke, etwa Dilettante („Oh Elijah / don’t make me wait / What is so pressing? / You can’t undress me anyway“) oder noch deutlicher Cheerleader (“I’ve seen America with no clothes on / but I don’t wanna be a cheerleader no more”), von dem Clark sagte: „It speaks to not wanting to be an idle object anymore. It’s about taking control of your own life and not kowtowing to the desire of others”. Dementsprechend wird das “I” des Refrains durch stampfende Betonung mit einem Ausrufezeichen versehen.

Cheerleader

Annie Clark ist nicht greifbar. Es ist unmöglich, sie oder ihre Musik zu vereinfachen, indem man sie auf ein Klischee beschränkt. Sie ist eben nicht nur der großäugige Schöngeist mit Sinn für hinreißende Ästhetik (kann sie aber) oder ein auf die Barrikaden gehendes Riot Grrrl (kann sie auch). Sie ist die Summe ihrer Teile. Es ist nicht möglich, eines dieser Teile einfach wegzulassen, weil ihre Grenzen dazu zu verschwommen sind. Und mit den Stilmitteln des Pop ein Gesamtbild zu erschaffen, dass sich nicht auf eine Hauptkomponente herunterbrechen lässt, ist ihre größte Stärke.

Im fast schon balladesken Champagne Year beschreibt St. Vincent ihre Neujahrsmelancholie: „I make a living telling people what they want to hear / But I tell ya it’s gonna be a champagne year”. Es muss eben nicht immer so ausgehen, wie es am Anfang scheint – und am Horizont macht sich bereits die Abrissbirne bemerkbar.

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