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tolomoquinkolom
Sämtliche Folk-Einflüsse auf zwei Dekaden der Popmusik würde ich nicht unbedingt ausschließlich auf Bob Dylan zurückführen – und es ist nach meiner Meinung nicht Dylans Tradition, sondern eine, die bereits vor ihm bestand (wenn er sie auch in nicht unbedeutendem Maße weiterführte). Auch die allgemeine Erweiterung der Möglichkeiten einer Singstimme kann ich nicht erkennen; allenfalls die Vorwegnahme des Nichtsingenkönnens als erklärte Kunstform auf Grund nicht vorhandener anderer Alternativen.
Dass Dylan die akustische Musik nicht erfunden hat und er nicht der Erste auf der Bühne mit Akustikgitarre war, sieht doch niemand in den Argumentationen hier anders. Aber er war der Erste, der dem Folk eine entscheidende Wendung gab. Zuvor war es eine Musikrichtung, die für sich allein stand, die sich zu anderen Richtungen bewusst abgrenzte (weswegen man Dylan 1966 „Judas“ nannte) und mit sozialkritischen Themen kokettierte. Im Folk war kein Platz für Pop. Und genau diese Grenzen riss Dylan nieder, weg von der konservativen Haltung zu einer universellen. Ich meine zu behaupten, dass all die Musik, die auch heute noch geschrieben wird und im Wechsel zwischen E-Gitarre und A-Gitarre steht, auf Dylans Wandel vom Folk-Musiker zum Rock-Musiker zurückzuführen ist. Sicherlich auch unbewusst und indirekt, aber er öffnete Grenzen, die danach als selbstverständlich offen angesehen wurden und denen sich nahezu jede Band bedient(e).
Dass einem die Gesangsstimme von Dylan nicht gefällt, okay, aber wieso meint man dann sofort, dass er nicht singen kann? Er trifft die Töne. Er hält und betont sie nur anders. Aber es sind keine schiefen Töne, die er singt!
Und genau mit dieser Form des Gesangs brachte er in die Musik völlig neue Ausdrucksformen. Das Spezielle an Dylan ist, er wirkt nicht wie jemand, der vom Blatt abliest, sondern wie jemand, der frei denkt. Und genau diese Haltung gab es zuvor nicht in diesem Maße in der Musik. Für mich brachte Dylan sehr viel Individualismus in die Musik.
tolomoquinkolom
Es klingt manchmal auch ein bisschen so, als wären Presley oder Dylan aus dem Nichts aufgetaucht und plötzlich ward dann Licht bzw. in diesem Fall Musik mit Hüftschwung und Songwriting mit Anspruch. Dass es vorher bereits so Sachen wie Woody Guthrie, Kingston Trio, Peter, Paul & Mary oder Pete Seeger gab (im Falle des Kings: Bo Diddley, Chuck Berry, Gospel und Soul), scheint da von manch einer Begeisterungseuphorie verschluckt zu werden.
Wie oben schon geschrieben, Dylan hat nicht alles neu erfunden, aber vieles weiterentwickelt. Und darum geht es doch. Deine aufgezählten Folk-Musiker bewegten sich in dem folktypischen Spielraum. Dylan hingegen vermischte den Folk mit anderen Aspekten. Sei es musikalische oder persönliche Aspekte. Und das ist das Besondere, von dem alle weiteren Musikgenerationen profitierten.
tolomoquinkolom
Frage: Wo hörst du in der Musik des 21. Jahrhunderts die Einflüsse von Bob Dylan? Und hältst du es für möglich, dass die Erwähnung Dylans eher mit Respekt vor Person und Werk dieses Fossils zu tun haben könnte, und weniger mit tatsächlichem musikalischem Einfluss auf die Musik seiner singenden und musizierenden Nachfahren?
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Auch wenn diese Frage nicht an mich gerichtet war, trotzdem eine kleine Antwort…
Ich hatte es woanders schon einmal geschrieben, dass ein Einfluss nicht immer nur bei einer Kopie zu hören ist. Manchmal ist der Einfluss indirekt und stufenhaft aufgebaut. Und bei jeder weiteren Stufe kam eben ein neuer und anderer Einfluss hinzu, weswegen manches nicht direkt herauszuhören ist, die Referenzen trotzdem vorhanden sind. Man kann schlecht mit Dingen argumentieren, die auf eine Hypothese aufgebaut sind, aber ich bin der Meinung, ohne Dylan wäre die Musikgeschichte, die wir kennen, eine andere. Inwieweit eine andere kann ich nicht sagen.
Ein heutiger sehr bekannter Act, der sicherlich durch Dylan beeinflusst ist: Bon Iver
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