Re: Frank Ocean – Channel Orange

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captain-kidd

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Thinking About You

Schon der erste richtige Song macht klar: Instant Classic. Ocean vermählt R&B, Soul, Hip Hop und Pop, schüttelt die Melodien nur so aus dem Ärmel – und, verdammt, wie kann der Junge singen.Trifft direkt ins Herz und das Falsett zerreißt es dann. *****

Fertilizer

Kurzer Zwischentrack der ein wenig nach einem Oldschool-Soul-Werbejingle klingt.

Sierra Leone

Sehr verspielter und langsamer Track, der sich in der zweiten Strophe zauberhafte Marvin-Gaye-Streicher gönnt. Am Anfang wirkt der Song etwas zerfasert, kommt dann aber zum kontemplativen Punkt. ****

Sweet Life

Musik riecht nach Strand – der Text ist aber bitterböse. Pharell hat mit E-Piano und stotternden Basslinien funky produziert. „My TV ain’t HD / That’s too real.“ Humor hat er also auch. Schöner Song – aber die Höhepunkte sollen noch Folgen. Schöner D’Angelo-Moment vor dem letzten Refrain. ****

Not Just Money

Super Rich Kids (Feat. Earl Sweatshirt)

Absolut reduzierter Track, der auf die ersten Takte des Songs “Bennie and The Jets” von Elton John aufbaut. Genial wie er auf einer so einfachen Grundstruktur Melodie auf Melodie entwickelt. Frank wechselt außerdem zwischen Sprechgesang und seinem patentierten Crooning, Earl Sweatshirt von Oceans Crew Odd Future steuert auch noch einen relaxten Part bei. Textlich einer der besten Tracks des Albums, durchaus witzige Schilderung einer an Oberflächlichkeit zerbrechenden Jugend, die sich nach wahrer Zuneigung sehnt. „Too many bottles of this wine we can’t pronounce.“ Und dann baut das Genie den Refrain auch noch auch Zeilen des Hits „Real Love“ von aus Mary J. Blige zusammen. Absolut einzigartig. *****

Pilot Jones

Einer dieser Songs, der den Vergleich zum White Album der Beatles evoziert. Irgendwie eine Art experimentelle Skizze mit rückwärtsdrehenden Synthesizer-Melodien, Fingerschnipps-Beats, Sub-Bässen und aufgeschichteten Gesangslinien. Findet man so sicherlich nicht auf Album von Usher und anderen R&B-Konsorten. Und am Ende tönt sogar eine Flugzeugturbine, ganz wie weiland bei „Back in the U.S.S.R.“. ****

Crack Rock

Ein schnellerer, hip-hop-lastiger Track über Drogensucht und den Kampf dagegen. Ohne Zeigefinger, ohne Peinlichkeit. Einfach beobachtend und mit unterschwelliger politischer Anklage.. „Your family stopped inviting you to things.“ ****1/2

Pyramids

Nichts bereitet auf dieses Monument, auf diesen Genie-Streich hin. Ein 10-Minuten-Eisberg an Gefühlen, der den Bogen von der Wiege der Menschheit im alten Ägypten bis zur Moderne spannt. Vor allem betrachtet Ocean dabei die Rolle der Frau – von der schönen und einflussreichen Kleopatra damals bis hin zu einer Prostituierten heute, die in einem Nachtclub namens „Kleopatra“ anschaffen geht. Von der Black Queen zur Black Bitch. Und die Musik steht dem Text ins nichts nach und schafft ein neues Genre. Prog-R&B. Backwards-Beats, Techno-Synthesizer, Sub-Bässe, eiskalte Gitarren-Splitter, Casio-Beats, Autotune-Melodien, Pseudo-Bläsersections. Alles und noch mehr. *****

Lost

Und nach diesem Übetrack haut Frank einfach mal so die beste Radio-Single seit gefühlten 15 Jahren raus. Ein Song den mit seinen Gitarrenparts auch die engstirnigen Indie-Crowd mögen könnte. Die Streicher im Refrain sind pure Schönheit und diese Gesangsmelodie ist so wohlig melancholisch und klingt irgendwie wie der Abschied von der ersten Ferienliebe damals an der Ostsee. Spätestens bei diesem Track merkt man dann, wie absolut unglaublich dieses Album ist. Man fragt sich, wo er diese Ideen herholt und was jetzt noch kommen soll. Großes – soviel sei gesagt. *****

White (Feat. John Mayer)

Monks

Da Frank die Hörer anscheinend nicht überfordern will, streut er vor dem kommenden drei emotionalen Höhepunkten des Albums einen luftigen Prince-Funk-Track ein. Gut, ich kenne Prince nicht – aber so stelle ich ihn mir vor. Für mich klar der schwächste Song des Albums- der jedoch echt nen witzigen Text featured. Unter anderem geht es um „Monks in the mosh pit“ und den „stage diving dalai lama“. In der letzten Strophe küsst Ocean dann wieder das Genie. Die besten Autotune-Momente seit Bon Iver auf dem Kanye-West-Album und geile Rückwärts-Beats. Trotzdem nur ***1/2

Bad Religion

Was für ein Song. Noch mal: Was für ein Song. Quasi sein Coming-Out-Track. Und er ist so wunder wunderschön. Wie er zum Beispiel „Leave the meter… running“ singt. Diese Verzögerung. Das geht ganz tief rein, wie Udo schon sagte. Allein sitzt er da im Taxi und bittet den Fahrer um Gesellschaft. Seine Liebe blieb unerwidert, die Dämonen machen ihn fertig. Und dann zieht er noch so viele Ebenen ein. Unerwiderte Liebe, Ängste vor dem Outing, Islamphobie – Tausend und eine Geschichte. Und das alles mit einer Emotionalität vorgetragen, die einem jedes Mal die Kehle zuschnürt. *****

Pink Matter (Feat. Andre 3000)

Die letzten Songs des Album sind wirklich unwirklich. Da hat einem „Bad Religion“ gerade das Herz zerfetzt, geht es so unglaublich traurig weiter. Immer weiter. Bis ins Innere der Trauer. „Giving me pleasure, pleasure, pleasure“, fleht er immer wieder. Wen dieser Vortrag nicht berührt, der muss tot sein. Sorry, das ist so emotional, so gefühlt, so, nochmals sorry, ehrlich… Wow. Und wo andere sich weiter in dem Schmerz suhlen würden, da schickt Ocean plötzlich den coolsten Rapper aller Zeiten Andre 3000 ins Rennen. Eine einfach unglaubliche Verschiebung der emotionalen Dimensionen – sublim und doch spürbar. Pures Genie. *****

Forrest Gump

Ein Song der klingt wie die Zigarette danach. Nach den emotionalen Explosionen einfach ein kleines Liebeslied mit Beats und Orgel und am Ende sogar einem beschwingten Pfeifen. Könnte so auch dem Headphone Masterpiece von Cody Chesnutt erklingen. *****

End

Fazit: Nur selten macht ein Album sprachlos. Dieses macht es. Vor allem die zweite Hälfte. Was Frank Ocean hier an Emotionen, Ideen und Melodien raushaut ist unwirklich. Ein Höhepunkt jagt den nächsten – und das alles in den unterschiedlichsten Stilen. Mal so ne Art Prog-R&B, mal purer Pop, mal beinahe folkigen Hip Hop und natürlich diese unnachahmlichen Balladen. Und diese Vielfalt sowie die zahlreichen kleinen Zwischenstücke machen das Ganze für mich zum Weißen Album des R&B. Zu einer genialistischen Wundertüte mit unsterblichen Songs. Und das bei einem Debüt. Unfassbar. *****

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