Re: Ich höre gerade … Jazz!

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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vorgartendie zeit der identitäten ist halt vorbei und ich finde das sehr befreiend. hipsterbashings sind ja vor allem deshalb doof, weil man damit ja krampfhaft versucht, menschen eine identität zu geben, die damit gar nichts anfangen können.
heute charlie parker hören ist wohl hipper als heute steve coleman hören. teil des getrifizierungsprozesses sind du und ich auch. und gegenüber fair trade und veganismus steht ja immer noch der fakt, dass es industrielle fleischproduktion und umweltzerstörung gibt.
musik mag nicht mehr indentitätsstiftend sein, aber sie bleibt trotzdem euphoriematerial. und wenn es dann viel mehr arbeit macht, menschen zu beurteilen (weil es anhand der musik, die sie hören, nicht mehr geht), ist das nicht das problem der anderen, sondern das eigene. arbeit muss man sich ab und zu halt mal machen. :-)

Ich bin der letzte, der bestreiten würde, dass ich selbst Teil eines Gentrifizierungsprozesses bin. Ich behaupte ja oft und gerne, dass selbsternannte Gentrifizierungskritiker meist selbst Gentrifizierer sind – und kriege dann regelmäßig was aufs Maul. Das Gegenargument dieser Jungakademiker, Studenten, Kulturschaffenden etc. ist dann meist irgendwas in der Art von „Das ist was gaaanz anderes!“ Ich habe auch nichts gegen fair trade und Veganismus (gestern erst fair trade-Espresso gekauft! ;-)), jeder soll nach seiner Facon selig werden. Mich langweilt es nur, wenn es die Form eines pharisäerhaften und konformistischen Wohlstandslifestyles annimmt. Ich lebe im Prenzlauer Berg und kann ein Lied davon singen, glaube mir!

Btw: Letztens stand ich vor einer Eisdiele (vegan, bio, mit Sojamilch, bla) und dachte mir: Eigentlich müsste man antizyklisch handeln und Speck-Eis anbieten. Mit Zwiebeln drauf. Vegan kann doch heute jeder. :teufel:

Dass dieses Video kein Klischee auslässt ist mir schon klar, und es ist in dieser Weise ja auch schon wieder selbstparodierend, oder, lieber vorgarten? ;-) In sofern kannst Du beruhigt davon ausgehen, dass ich Menschen keineswegs aufgrund solcher vermeintlich typischen Äußerlichkeiten beurteile. Mein Empfinden ist sogar, dass solche Äußerlichkeiten stark an Bedeutung verloren haben, da sie austauschbar geworden sind. Umgekehrt schlüpfen manche Menschen aber auch in irgendwelche Rollen, die sie dann überklischeehaft auszufüllen versuchen. Welche Substanz und welches MHD das hat, ist eine andere Frage. Du sagst sogar, dass die Zeit der Identitäten vorbei ist? Gewagte These! Wird damit alles egal? Vegan, Charlie Parker, alles egal?

Musik ist für mich immer noch auch ein Bedeutungsträger, wenn auch in anderer Weise als 1980 oder vermutlich zu Charlie Parkers Zeiten. Es ist aber interessant, darüber nachzudenken, was Musik heute mir und anderen bedeutet oder nicht oder warum sie euphorisierend oder in anderer Weise berührend wirkt oder nicht.

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)