Re: Ich höre gerade … Jazz!

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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vorgartenalso hier jedenfalls hören außer mir alle parker, glaube ich. sofern sie sich nicht in irgendwelchen feindesländern herumschlagen und festnetzanschlüsse erobern.

Weißt Du, ich glaube ich werde einfach alt

Letzten Monat wurde die SPEX 35 Jahre alt und als Gimmick lag eine verkleinerte Reproduktion der ersten Ausgabe von 1980 bei. Außerdem wurde darin etwas über Pop und Pop-Journalismus gestern und heute nachgedacht und da zeigt sich schon recht deutlich, dass Pop 1980 eine ganz andere Bedeutung hatte als heute – zumindest in seiner subkulturellen Ausprägung. Und die Gründung der SPEX war ein Fanal! Musik stand auch für Selbstbehauptung und Abgrenzung und war damit identitätsstiftend. Ich behaupte mal auch auf Jazz kann oder konnte man das teilweise anwenden. Es ist einfach was anderes, ob man Charlie Parker hört oder meinetwegen Frank Sinatra. Hip oder nicht, das ist da die Frage und das war damals für das eigene Selbstverständnis nicht unbedeutend.

Das hängt meines Erachtens auch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zusammen. Deutschland (Europa?) war nach meinem Empfinden vor 1990 ein viel spießigeres, engstirnigeres und intoleranteres Land als heute und man hatte Grund genug, sich abgrenzen zu wollen. Unter anderem mit Musik. Es lagen Welten dazwischen, ob man Pink Floyd hörte oder Joy Division (oder gar nichts, das gab’s ja auch) und das trieb einen Keil durch eine ganze Generation. Und mit Pop allgemein grenzte man sich gegen die böse Erwachsenenwelt ab. Sowas gibt es heute nicht mehr. Wenn ich mit meinen 30-jährigen Kollegen in der Mittagspause sitze, spüre ich das. Die habe sich in ihrem offenbar gemütlichen Neuköllner Schillerkiez eingerichtet, wissen nicht, dass sie Teil eines Gentrifizierungsprozesses sind (diese Behauptung würden sie brüsk zurückweisen!) und wenn ich erzähle, früher (damals) war Berlin eine (geographisch) eng wirkende Stadt, in der man nicht weit blicken konnte, erwidern sie „Wieso? Es gibt doch das Tempelhofer Feld!“ Dass das Tempelhofer Feld jahrzehntelang nicht zu betreten war, dass Neukölln nicht immer kuschelig war, dass es in Berlin eine Mauer gab, das es in Deutschland bürgerkriegsähnliche Konflikte um Hausbesetzungen, Atomkraft, Startbahn West, NATO-Doppelbeschluss etc. ff. gab und die heute kuscheligen Grünen als rot-grüne Schweißfliegen und Ratten beschimpft und in die Nähe von Terroristen gerückt wurden, das wissen sie nicht! Heute sitzen sie mit ihren iPhones im Schillerkiez, schlecken ihr veganes Eis und können Charlie Parker nicht von Frank Sinatra unterscheiden und Pink Floyd nicht von Joy Division. Ist ja auch egal, denn in deren Ohren steht das ja für nichts.

Wie gesagt, ich werde alt und ich weiß nicht, welche Musik heute hip ist und ob es irgendetwas gibt that sets the world on fire. Ich bezweifle es, aber es gibt eben auch nicht mehr die Voraussetzungen dafür. Musik ist heute so etwas wie ein Ornament, das einem gefällt oder nicht. Ob sie noch identitätsstiftend ist, weiß ich nicht.

Kleiner Gedanke, viel Text und hier off topic, ich weiß. Ich gebe zurück an Charlie Parker.

Ach ja, hier die Hipster Parodie: https://www.facebook.com/MTVStyleGermany/videos/861809377205942/

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)