Re: Ich höre gerade … Jazz!

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gypsy-tail-wind
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Trauermusik für Giorgio Gaslini und im Gedenken an den vor zehn Jahren verstorbenen Steve Lacy – und Trauermusik, die natürlich immer auch eine Musik des Lebens ist, wie jede Trauer auch eine Feier ist. In der umgehängten Schultertasche trägt der damalite Leader Percy Humphrey (die Aufnahme entstand im August 1951) übrigens die Noten für alte Militärmärsche und dirges, die damals keine andere Band mehr im Repertoire hatte – bei den Noten hatte die Band die Titel abgeschnitten und stattdessen eine Numerierung eingeführt, man hütete diese Schätze wie den eigenen Augapfel. Die Band befand sich damals im vierten ihrer fünf Jahrzehnte. Für die Aufnahme holte man George Lewis an der Klarinette, der seit den Zwanzigern immer wieder mit der Gruppe aufgetreten, aber damals 1951 kein festes Mitglied der Band war. Er spielt die kleinere, in Es gestimmte Klarinette, in Brass Bands damals anscheinend üblich, da sie durch die höhere Stimmung leichter den Wall der Blechbläser durchdringen konnte (es gibt neben drei Trompeten, zwei Posaunen und dem Sousaphone auch je ein Alt- und ein Tenorsaxophon sowie natürlich die zwei Drummer an Snare bzw. Bass-Drum. Lewis‘ Klarinette wurde im Verlauf der Session immer tiefer – weil das Blech mit zunehmenden Verlauf immer höher wurde und die Klarinette nicht weiter angepasst werden konnte, zudem las er keine Noten. Im Rahmen einer Probe (die v.a. aus aufnahmetechnischen Gründen angesetzt wurde) konnte er sich dann mit den komplizierten Stücken wieder vertraut machen, die er dann nach Gehör spielen musste.

Am Tag der Session, die in einer für Parties abgesperrten Gasse (mit Jukebox und Beleuchtung) unter freiem Himmel stattfand, war es sehr warm – doch die Band kam in der üblichen Uniform, schwarze Hosen, und Krawatten, weisse Hemden und natürlich die Mützen. Über die LP, die nur dank sehr grosszügiger Auslegung der Gewerkschaftsnormen entstehen konnte (Alton Purnell, Pianist von George Lewis‘ damaliger Band war als Vertreter der Union vor Ort und liess die überlangen Stücke und Medleys zu), schrieb Nat Hentoff in seiner Besprechung für down beat: „this is probably as authentic a New Orleans brass band as we will ever hear on record“ – und gab der Platte, die auf dem Label Pax herausgekommen war, fünf Sterne. Die CD wurde von den original „metal parts“ hergestellt, da der Lizenznehmer, der 1953 die Pax-Platte herausgebracht hatte, die Masterbänder veruntreut und verloren hatte. Die CD enthält zwei Alternate Takes und auch drei Stücke, die als Warm-Up vor der Session aufgenommen wurden (auch da war Purnell grosszügig). Das Programm der ursprünglichen LP besteht aus einem typischen Ablauf: Hymnen auf dem Weg in die Kirche, dirges auf dem Weg von da zum Friedhof, hot music nach dem Begräbnis. Das grosse Highlight ist wohl das über acht Minuten lange „Garland of Flowers“, aber es gibt in jedem Stück magische Momente.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba