Re: Ich höre gerade … Jazz!

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gypsy-tail-wind
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Ein seltsames Ding, kein Album eigentlich, eher Stückwerk, eine Abfolge von Duos (mit Keith Jarrett, einmal am Klavier, eimal an der Flöte), Trios (zwei Stücke mit Charlie Haden und Sam Brown), sowie einem Percussion-Solo und einem Quartett (mit Haden, Leroy Jenkins und Betty Friend). Aufgenommen wurde das alles an zwei Tagen im November 1972 in New York. Im ersten Stück ist Sam Brown an der akustischen Gitarre zu hören, fast bin ich versucht, sie eine spanische zu nennen bei der Stimmung, die aufkommt. Dann folgt Motians kurzes und schönes Solo und die erste Hälfte endet mit dem längsten Stück, dem zweiten Trio mit Brown/Haden, auf dem Brown dann eine elektrische Gitarre bedient. Motian spielt toll wie fast immer, unkonventionell, in Wellen und Schüben, das Tempo oder eher die Dichte ändert die ganze Zeit, Hadens Bass – mit dem dicken, warmen Ton und den wenigen Tönen – ist am ehesten das Zentrum, aber die drei scheinen sich quasi zu belauern, zu umkreisen wie Raubkatzen vor dem Kampf – alles scheint jederzeit möglich. Aber es geschieht dann doch nicht soviel, eher, dass Haden/Brown Grooves entwickeln, die Motian umspielt und beinah sabotiert …

Die zweite Hälfte öffnet dann mit Jarrett, ein fast achtminütiges Duo, das einige Zeit braucht, um in Fahrt zu kommen, und das für meine Ohren keinen Weg findet, Jarrett klingt zu leicht für Motian, der seinerseits alles tut, um jeglichen Flow zu stören … das kann er ja phantastisch und im besten Fall entwickelt sich daraus ein neuer, eigener Flow, ein Sog, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht und mitreiss, auch wenn er eher torkelt denn swingt – wobei das Torkeln natürlich eins ist, das er minutiös im Griff hat. Aber hier, mit Jarrett, scheint mir das irgendwie eine Fehlpaarung zu sein, zumal ohne Haden, der im Trio kitten konnte. Im zweiten kurzen Stück (die Plattenhälften sind gleich aufgebaut, ein längeres Stück, eine Miniatur von zweieinhalb Minuten, dann ein noch längeres Stück) spielt Jarrett Flöten, Motian wechselt nach dem Auftakt von kleinen Instrumenten ans Drum-Set. Ob man hier ein wenig Art Ensemble spielen wollte? Das letzte Stück, das knapp zehn Minuten lange „Inspiration from a Vietnamese Lullaby“, öffnet mit Haden und Motian, dann steigen Jenkins und Friend mit dem Thema ein, die Flöte spielt eine Art Echo zu den Geigenlinien, Haden ist wieder das Zentrum der Musik, während Motian mehrere Parts zugleich zu spielen scheint, einen schweren, der Boden gibt, und dazu einen, den ich fast puckish nennen mag, der mit Becken und wohl anderen kleinen Dingen Impulse gibt, mit einem kleinen dumpfen Crash etwa. Jenkins steigert sich in schnelle Linien, wird immer intensiver, die Flöte gibt dazu eine Art Hall, seltsam irgendwie, aber ein interessanter Effekt. Motian verdichtet immer mehr, während Haden ganz einfache Ostinati spielt, streckenwiese nur zwei sich abwechselnde Töne. Das Gewicht verlagert sich zwischen den Stimmen, die Violine wird zwischenzeitlich zum Schatten der Flöte, Motian scheint das ganze Stück sehr genau dramaturgisch zu planen mit Verdichtung und Entspannung – sehr schön, wie das alles aus einem kleinen Motiv geformt wird und am Ende quasi im Nichts verschwindet.

Aber das Fazit bleibt zweispältig, ein gutes Album ist das nicht. Was ich allerdings richtig gerne hören würde, ist das – nie gemacht, soweit ich weiss – Trio-Album von Jenkins, Haden und Motian.

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