Re: Ich höre gerade … Jazz!

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gypsy-tail-wind
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Nö, wenn Du der Trompete lauschst, findest Du sogar in den Achtzigern noch viele Momente, in denen derselbe „alte“ Zauber da ist, wie man ihn schon in den Fünfzigern hören kann. Brüche gibt es vielleicht in den Siebzigern, mich dünkt das „second quintet“ und die darauf folgenden Bands (das „lost quintet“ und die elektrischen Gruppen Anfangs der Siebziger) haben Miles richtiggehend angespornt – sein Trompetenspiel ist wohl so um 1970 auf einem Zenit, da spielt er unheimlich gut (etwa auf „Miles at Fillmore“, dem kondensierten Ergebnis von vier Sets, die jeweils auf LP-Seitenlängen heruntergekürzt wurden). In den elektrischen Jahren von 1970-75 war der „Zauber“ nicht mehr gefragt, es gab Phasen, da waren Soli generell nicht mehr sehr gefragt (oder wurden den Gitarren überlassen und hie und da dem Saxophon), aber davon abgesehen ist Miles sicher kein Musiker, der sein eigenes Spiel gross gewandelt oder entwickelt hat, eher hat er es den jeweiligen (von ihm natürlich stark geprägten – und gerade das ist sein grosses Verdienst!) Umständen, der Musik, die um ihn herum gespielt wurde, angepasst – ohne dass es deshalt zu Brüchen kam.

Einen Teil des Zaubers kann man übrigens durchaus schon in einigen Soli aus der Zeit mit Charlie Parker hören. Allerdings war Miles da ein technisch gar nicht so schlechter Bebopper – die Eisenchops von Dizzy oder Fats hatte er nie, auch nicht den Punch von Dizzy oder den fetten Sound von Fats, aber die Behauptungen, er sei ein mittelmässiger Trompeter sind doch ziemlicher Blödsinn. Unabhängig von den kurzen „Birth of the Cool“-Experimenten* und den oft ziemlich schwachen frühen Prestige-Sessions hört man auch auf Live-Aufnahmen aus der Zeit, dass Miles eine harte, mit allen Wassern gewaschene Trompete blies, wenn es darauf ankam. Am besten zu hören auf den drei Sessions aus dem Birdland, die Blue Note vor einigen Jahren mal aus dem Sumpf der Bootlegs gehoben und schön aufbereitet hat. Da ist Miles in zwei Sessions mit seinem Sextett mit J.J. Johnson, Sonny Rollins, Kenny Drew, Tommy Potter und Art Blakey zu hören, sowie in einer aussergewöhnlichen weiteren Besetzung mit den Tenorsaxophonisten Eddie „Lockjaw“ Davis und Big Nick Nicholas (Adressat von Coltranes „Big Nick“), Billy Taylor, Mingus und Blakey. Da fliegen die Fetzen, nicht nur zwischen den beiden Tenören, sondern auch bei Miles!
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*) Da lohnen auch die Live-Aufnahmen … für CD-Hörer gibt es sie als Bonus auf „The Complete Birth of the Cool“ von Blue Note/Capitol, für das Album selbst benötigt man aber zusätzlich noch die RVG-CD, da erst dort – erstmals überhaupt im CD-Zeitalter – auf die Originalbänder zurückgegriffen werden konnte, die vorhin verschollen waren.

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