Re: Ich höre gerade … Jazz!

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gypsy-tail-wind
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Das erste Album der beiden, „Violins No End“, ein paar Jahre früher entstanden, brauche ich noch. Dieses hier, 1965 in Paris aufgenommen, hat mich bisher nie so gepackt. Der Kontrast der beiden Geigen ist zwar riesig und René Urtreger am Klavier schätze ich auch, aber irgendwie wirkt das ganze etwas zu routiniert, zusehr auf Autopilot. Smith war – darin übrigens Oscar Peterson oder Coleman Hawkins verwandt – zwar einer, der immer aufs Ganze ging, jeden Auftritt, jede Plattensession anging, als wäre es die letzte … aber das reicht halt auch nicht immer. Dennoch kein wirklich schlechtes Album.

Die LP sah wohl so aus (es gab dann auch noch eine blau-graue mit kleinem Photo):

Smith war übrigens 1957 in Paris von der Bühne gebuht worden, als er dort mit Jazz at the Philharmonic spielte. Alain Tercinet zitiert in seinen Liner Notes zur „Jazz in Paris“-Ausgabe, wie Sacha Distel die „Stuff Smith Affäre“ zusammengefasst hat:

Stuff has a great sense of jazz which really excites me, but you have to admit he’s so off-key he plays like a cow! … But the problem doesn’t bother him at all, so, so much the better!

Ein Vorwurf, den sich Smith wohl öfter anhören müsste, der aber – bei allem Respekt vor dem jungen Distel, der ein feiner Jazzgitarrist war, bevor er verloren ging – komplett an der Sache vorbeigeht. Smith hat einen Ton, der nuancenreich und „gross“ ist wie jener von Coleman Hawkins oder Ben Webster, der ein Gefühl für die Zwischentöne offenbart, wie es viele Jazzmusiker an den Tag legten, neben den genannten in der Zeit zum Beispiel auch Johnny Hodges – Glissandi, gedehnte Töne, die fallen gelassen, gehoben oder gesenkt werden … business as usual für den afro-amerikanischen Jazzmusiker, aber für das oftmals bornierte Pariser Publikum – ja selbst für die ordentlichen Musiker – vermutlich einfach zuviel. Die buhten ja auch John Coltrane und George Russell aus, Jahre später, als der moderne Jazz längst in Europa angekommen war. Stéphane Grappelli seinerseits wird von Tercinet mit dem folgenden Satz zitiert: „The arrival of Stuff Smith was an event in my life … Not since Django Reinhardt, Louis Armstrong or Art Tatum had a musician made such an impression on me the first time I heard him.“ – Eat this, Sacha Distel! Grappelli, der wohl zu den zwei poliertesten Jazzmusikern aller Zeiten gehört (keine Ahnung, wer der andere ist) hat gehört, was Smith zu bieten hatte. Bei allem Kontrast zum eigenen Spiel war er offensichtlich in der Lage, das zu erkennen, was in den USA die grössten Jazzmusiker erkannten – Smith spielte buchstäblich mit allen Swing- und vielen frühen Bebop-Musikern, jammte mit Ellington oder Charlie Parker. Dass vergleichsweise wenig dokumentiert ist, halte ich persönlich für eine Tragödie. Aber immerhin gibt es die phantastischen Verve-Aufnahmen, mit denen Norman Granz in einigen Monaten Ende 1956 und Anfang 1957 sowie nochmal 1959 versuchte, Smith gerecht zu werden – mit Erfolg, auf jeden Fall, aber leider sind bei einem so überragenden Musiker drei, vier gute Alben nicht annähernd, was er verdient hat!

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