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Ein kleiner Umweg in die Sideman-Tätigkeit des Oscar Peterson Trios … drei unglaubliche Alben in nur zwei Tagen, eingespielt in den Capitol Studios in Hollywood am 15. (Soulville) und 16. Oktober 1957. Stan Levey war der Drummer am ersten und Alvin Stoller am zweiten Tag.
Die Reissues aus der Verve Master Edition enthalten ein paar Bonustracks. Bei Webster sind das drei Boogie-Stücke, die Webster am Klavier mit Begleitung der Rhythmusgruppe eingespielt hat, bei Hawkins gibt es zwei weitere Stücke zu hören, „Begin the Beguine“ und „I Never Had a Chance“ (in zwei Takes) sowie die Mono-Masters der Hälfte des Albums (das komplett in der Stereo-Fassung zu hören ist). „Encounters“ ist meine liebste der drei (auch wenn die Hawkins-Scheibe unglaublich eindrücklich ist!) und auch hier gibt es zum Kontrast von „Blues for Yolande“, dem Opener, am Ende noch die Mono-Version zu hören – und dann vom selben Stück noch ein nach drei Minuten abgebrochener Take.
Ben is phenomenal. These guys can come and play with the young cats and still fit in. These guys – like Hawk and Ben – are living legends.
~ Johnny Griffin (c. 1957)
Mit Webster hatte Granz das Trio schon 1953 vereint, als „King of the Tenors“ bekannt (so der Verve-Titel der Ausgabe von 1957), aber zuerst als „The Consummate Artistry of Ben Webster“ (Norgran) erschienen. Dort spielte J.C. Heard Schlagzeug in vier Quintett-Titeln mit dem Trio mit Barney Kessel (und einem Alternate Take), für die fünf Stücke im Septett, ein paar Monate später und inzwischen mit Herb Ellis, stiessen Harry Edison, Benny Carter und Alvin Stoller dazu. Auch das war schon eine tolle Scheibe, der Titel der Verve-Ausgabe mag etwas hochgegriffen sein, aber Webster war in den frühen Fünfzigern von den ganz grossen wohl der agilste, Pres hatte zwar an guten Tagen noch immer mehr zu bieten als alle anderen zusammen, Hawkins seinerseits nahm zwar ein tolles Album nach dem anderen auf, aber sein Spiel hatte sich seit den mittleren Vierzigern nicht mehr wesentlich verändert. Webster hingegen war auf dem Zenit, in schnellen Nummern zupackend und wuchtig, mit einem mitreissenden Beat und lockerem Swing, in den Balladen noch vokaler im Ton und so berührend wie kaum ein anderer, er liess sein Horn hauchen, grollen, liebkoste eine Melodie mit grösster Zärtlichkeit … und rotzte ein paar Minuten später mit unglaublicher Nonchalance einen schnellen Blues dahin. Das beste seiner Alben mit Peterson – finde ich – folgte allerdings erst ein paar Jahre später, als dieser sein Trio umgebaut und einen Drummer statt eines Gitarristen dabei hatte. Doch alles zu seiner Zeit. Auf „Soulville“ ist Webster selbst beeindruckend, ein paar der Stücke gehören zum schönsten, was es von ihm gibt – aber mich stört manchmal der übertriebene Twang von Ellis‘ Gitarre … man forderte den Texaner wohl dazu auf, diese Facette seines Spiels in den bluesigen Nummern etwas zu forcieren. Schade, da wünschte ich mir einen etwas subtileren Gitarristen. Peterson allerdings ist als Begleiter erste Sahne, etwa im Rubato-Intro zu „Time On My Hands“.
Wenn ich Hawkins in den letzten eineinhalb oder fast zwei Jahrzehnten seiner Karriere mit einem Wort beschreiben müsste, wäre es wohl „hungrig“. Sein Spiel zehrt buchstäblich alles in sich auf, wenn er fertig ist, ist der Tisch leer, das Geschirr und die Tischdecke hat er gleich auch noch verschlungen. Auf wenigen Alben kommt dieser Hunger so schön zum Ausdruck wie auf „The Genius of Coleman Hawkins“ – wobei „schön“ ein unpassendes Wort ist. Im Gegenteil zu Webster war Hawkins nicht daran interessiert, irgendwas zu liebkosen, zu umschmeicheln. Nein, er geht gleich und immer und nur in medias res – etwas anderes ist undenkbar. Bei Fletcher Henderson entwickelte er überhaupt erst das Jazzspielt auf dem Saxophon, anfangs holprig und linkisch, aber schon in den frühen Dreissigern war sein Spiel von einer unglaublichen Virtuosität, harmonisch von einem Reichtum, wie man ihn sonst eher von Pianisten kennt – er forschte in raschen, gleichmässigen Linien jeden Winkel der Songs aus, die er spielte. Zu Zärtlichkeit fähig war er natürlich auch – man denke nur an „Body and Soul“ oder höre sich hier „You’re Blasé“ an. Interssanterweise spielten Webster wie auch Hawkins beide Harold Arlens „Ill Wind“ ein. Hawkins machte keine Melodie kaputt, aber wenn es um die Improvisation ging, kam er zur Sache und graste die Musik ab – danach war es kahl, es blieb nichts mehr zu sagen. In den Fünfzigern und Sechzigern sind seine langen Linien oft stark synkopisch phrasiert, was eine Art flüssigen Ruckelgroove erzeugt, ein Hin und Her oder ein Auf und Ab. Im Gegensatz zu Webster wird wenig variiert, er spielt durch, vom Anfang bis zum Ende. Auf der Scheibe heisst das auch, dass es eigentlich nur einen Solisten gibt: Coleman Hawkins. Der flexible Beat des Peterson Trios mit Alvin Stoller lässt die Musik bei aller manchmal kaum auszuhaltenden Insistenz Hawkins‘ atmen, lässt sie dehnbar und beweglich scheinen, hilft auch, die durchaus vorhandene Wärme in seinem Ton hervorzuholen. Für mich ein schwieriges Album, ein wirklich harter Brocken, den ich erst über die Jahre zu schätzen lernte – aber mit Sicherheit einer von Hawkins‘ eindrücklichsten Momenten in der ganzen, langen Karriere.
Er starb übrigens dann wirklich am fehlenden Hunger – irgendwann versiegte sein gigantischer Appetit einfach, der elegante Mann mit Hut und gepflegtem Schnäuzer begann schon ein paar Jahre zuvor einen Vollbart zu tragen und furchterregend dreinzuschauen … Ende der Sechziger ging Hawkins an den Folgen übermässigen Alkoholkonsums zu Grunde.
Bis dahin war es aber noch ein langer Weg und im Oktober 1957 war er in bester Verfassung. Er spielte auch kompetitivere Alben mit anderen Tenorsaxophonisten ein, etwa „Night Hawk“ mit Eddie „Lockjaw“ Davis und einige Jahre später mit Sonny Rollins „Sonny Meets Hawk“. Aber das Treffen mit Ben Webster verlief äusserst freundschaftlich. Die beiden versuchen eher, sich in Lockerheit und Reichtum des Tones auszustechen denn mit rasanten Linien oder besonders schlauen Reharmonisierungen oder sonstigen Griffen in die Trickkiste. Das Ergebnis ist ein unendlich entspanntes, dank Petersons Mannen aber stets satt groovendes Album, das die beiden Meister in langsamen und mittelschnellen Stücken präsentiert. Das charmanteste ist wohl „La Rosita“ über einen rumpelnden Latin-Beat. Komponiert hatte das Stück ein Bandleader namens Walter Haenschen, der sich Gus nannte und als Carl Fenton seine Band leitete, als Komponist hier aber das Pseudonym Paul Dupont verwendete. Wer auf dieses Stück von 1923 kam und wie, das würde mich schon sehr interessieren! Daneben gibt es wundervolle Versionen von „It Never Entered My Mind“, „Prisoner of Love“ und „Tangerine“, eine hart swingende Version von „You’d Be So Nice to Come Home To“, als Opener das zupackende Hawkins-Original „Blues for Yolande“ und als Closer „Shine On Havest Moon“, noch eine Rarität, ein Tin Pan Alley-Song aus dem ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Album gehört zu den wenigen Jazz-Alben, bei denen ich wohl beinah jeden Ton jedes Solos mitsingen könnte – ein Fest!
Peterson (und mit ihm Produzent Norman Granz) war in den Tagen unheimlich beschäftigt. Am 10. Oktober nahm er schon das Album „Stan Getz And The Oscar Peterson Trio“ auf (ohne Drums), am 11. „Sonny Stitt Plays the Blues“ (mit Stan Levey und Roy Eldridge), am 14. dann „Louis Armstrong Meets Oscar Peterson“ (mit Stan Levey) und am 17. eine Session für Ella Fitzgeralds Ellington Songbook. Am 19. spielte die ganze JATP-Truppe dann in Chicago im Civic Opera House, Petersons Trio ist auf „Ella Fitzgerald At The Opera House“ (mit Jo Jones), „Stan Getz And J.J. Johnson At The Opera House“ (mit Connie Kay), seinem eigenen Set (siehe letzter OP-Post) und mit den JATP All Stars zu hören (deren Set wurde etwas verstreut veröffentlicht, soweit ich weiss).
Zum Stitt-Album schrieb ich auch schon ein paar Zeilen:
gypsy tail wind
Only the Blues enstand im Oktober 1957 und ist ein atypisches Album: Stitt trifft auf einen anderen Jam-Heroen mit eisernen Chops, Roy Eldridge (der am selben Tag noch ein eigenes Balladen-Album mit Russell Garcia einspielte und an den Aufnahmen für Herb Ellis‘ Klassiker „Nothing But the Blues“ mitwirkte – soviel eben zu den Chops aus Stahl). Am Piano sass Oscar Peterson, seine Mannen (Herb Ellis und Ray Brown) waren mit dabei, ebenso Drummer Stan Levey. Die Stimmung ist geladen, die Bandd spielte vier lange Blues ein, ausser dem „Cleveland Blues“, bei dem Take 3 der Master wurde, alle nur in einem Take. Das kürzeste Stück ist der Opener „The String“ mit genau zehn Minuten Dauer, das längste der „Cleveland Blues“ mit zwölf Minuten. Die Funken fliegen nur so zwischen Eldridge, Stitt und Peterson. Das ist keine schöne Musik, sondern Musik, die eine einfache, direkte Sprache spricht, die direkt in den Bauch geht. Die CD-Ausgabe, die 1997 in der „Verve Elite Edition“ erschien, fügte die Stücke „I Didn’t Know What Time It Was“ und „I Remember You“ sowie diverse Takes von „I Know That You Know“ an – alle drei kurze Standards, klassisches Stitt-Material jener Zeit (Eldridge ist nicht zu hören). Ich kenne die Story dazu nicht, aber der Produzent im Kontrollraum bellt die Musiker förmlich an zwischen diversen False Starts und Breakdowns… vermutlich ist es Norman Granz, der auf der CD als Produzent angegeben wird. Spannung scheint nicht nur auf der musikalischen Ebene vorhanden zu sein.
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