Re: Fiona Apple – The Idler Wheel….

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kaesen

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Schöne Kritik beim Spiegel:

Fiona Apple – „The Idler Wheel Is Wiser Than The Driver Of The Screw And Whipping Cords Will Serve You More Than Ropes Will Do“
(Epic/Sony Music, bereits erschienen)
Um Fiona Apple zu verstehen, versuche ich mir vorzustellen, wie das wohl so ist, mit ihr nach Coney Island zu fahren. Ein romantischer Tag am Strand, zwei Verliebte, Meeresrauschen, ein alter Rollercoaster. Doch das Mädchen ist nervös und verschlossen, wirkt ängstlich, fühlt sich bedroht von den offenen Räumen, erdrückt vom strahlend blauen Himmel. Du willst sie fragen, was los ist, aber du weißt es besser. Sie würde Dir nichts erzählen, dich nur mit großen Augen verletzt ansehen und sich noch mehr in sich zurückziehen. Also nimmst Du ihre kleine, knochige Hand in deine. Und schweigst. Und alles ist gut. „Kiss me while I calculate/ and calibrate, and heaven’s sake/ Don’t make me explain/ Just tolerate my little fist/ Tugging on your forest chest“, so beschreibt Fiona Apple diese Szene in dem Song „Jonathan“, der ihrem letzten Boyfriend Jonathan Ames gewidmet ist, dem Schriftsteller und Schöpfer der TV-Serie „Bored To Death“. „I don’t want to talk about anything, Jonathan, anything“, heißt es weiter. Denn das Erklären, die Einblicke in ihr verwirrtes und verwirrendes Seelenleben, das hebt sich die 34-Jährige Sängerin für ihre Musik auf.
Nach sieben Jahren ist mal wieder ein Album von ihr erschienen, das vierte seit 1996. Trotz, vielleicht auch aufgrund dieser Verknappung gehört Fiona Apple zu den großen Künstlerpersönlichkeiten der USA, nicht nur, weil sie für Songs wie „Criminal“ oder Alben mit unfassbar langen Titeln Grammys gewonnen hat, sondern weil sie die im Jazz, Vaudeville und Musical wurzelnde Tradition des Great American Songbook in die Neuzeit fortschreibt, ohne je Teil der Kommerz-, Medien- und Verwertungsgesellschaft geworden zu sein. Immer gab es nur sie selbst und ihre Pein, umkreiste sie ihren eigenen kleinen Kosmos, was einmal spektakulär dazu führte, dass sie 1997 bei der Entgegennahme ihres MTV Video Music Awards vor Millionenpublikum dazu aufrief, sich bloß nicht Künstler oder Popstars zum Vorbild zu nehmen. Nachvollziehbar, denn Fiona Apples Alltag muss man sich wie einen ständigen Kampf vorstellen: „Every single night is a fight with my brain“, singt sie in „Every Single Night“, in dessen Videoclip sie in auf einem schmutzigen Bettlaken, mit Schnecken überhäuft zu sehen ist. Insofern gibt es nicht viel Neues über den Inhalt dieser Songs zu berichten, sie folgen der Seelenauslotung eines Menschen, der in der Lage ist, sich komplett in seine Gefühlswelt zu versenken, aber auch fähig, das, was er in sich entdeckt, in wunderbaren, oft verstörenden, musikalisch aber erlösenden Liedern wiederzugeben – auch wenn das manchmal den Eindruck erweckt, man lausche den Erinnerungen aus einer Gummizelle. „But I am out of white doves‘ feathers/ To soak up the hot piss that comes from your mouth/ Every time you adress me“, ist der wohl brutalste und psychopathischste Refrain, den je ein Song („Regret“) von Fiona Apple hatte; ihre ansonsten spöttisch-kühlen Contralto-Stimme brüllt sich dabei heiser vor lauter Hass.
Fiona Apple lebt zurückgezogen mit ihrem Hund in Los Angeles. Wenn sie überhaupt das Haus verlässt, dann lässt sie sich von ihrem Bruder zum Musikclub „Largo“ fahren, wo sie manchmal allein, manchmal begleitet von ihrem langjährigen Kumpel Jon Brion, auftritt, Piano spielt und diese wahnsinnigen Songs verschüchtert darbietet. Das Piano ist auch das einzige Instrument, das auf „The Idler Wheel…“ zu hören ist, neben sehr vordergründiger, eigenwilliger Perkussion, einiger mühsam gesampelter, streitender Kinder in „Werewolf“ sowie sehr sparsam eingestreuten Gitarren- und Bass-Figuren. Die Essenz der auf kranke Weise betörenden Platte aber sind Fiona Apples Texte und Melodien, die sie in einem Interview mit „Pitchfork“ unlängst als „shit“ bezeichnete: „This is the stuff that I really needed to get out, this is the excrement of my life, the excrement I was trying to exorcise out of me.“ Und trotzdem würde man jederzeit mit ihr nach Coney Island fahren und stumm ihre Hand halten. (9) Andreas Borcholte

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