Re: Ich höre gerade … klassische Musik!

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gruenschnabel

Registriert seit: 19.01.2013

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gypsy tail windAls Zwischenruf: die Idee, die Mimik passe nicht zur Musik, finde ich äusserst seltsam, wenn sie vom betroffenen Musiker selbst geäussert wird – das wäre ja Grund, ins Wasser zu gehen, eine komplette Niederlage. Ich weiss nun nicht, wie Brendel das formuliert hatte und ob das hier überspittz wiedergegeben wurde, aber wie gesagt, die Vorstellung befremdet mich, denn der Interpret muss doch wissen, ob er beim Spielen eins mit der Musik ist bzw. sich so fühlt, wie er das haben will (mit der Musik eins sein ist ja nicht immer das Ziel, nehme ich mal an, sind ja nicht alles Mystiker ;-)) – und wenn das eben stimmt, ist es doch komplett Wurst, wie das auf die Aussenwelt wirkt – da bin ich ja sogar gewillt, Jarrett zu ertragen (allerdings nur im Jazz).

Ich finde die Idee alles andere als seltsam. Nicht jeder Musiker macht die Selbsterfahrung, dass das Zusammenspiel von Mimik und klanglicher Realisation übereinstimmt, wenn er sich sieht. Ein solcher Automatismus ist nicht selbstverständlich und kann an ganz einfachen physiologischen / physiognomischen oder gar schwereren körperlichen Defiziten bis hin zu psychischen Gegebenheiten scheitern.
Ich habe mich gerade heute – da es nun doch noch von Interesse zu sein scheint – übrigens daran erinnert, wo ich Brendels Überlegung begegnet bin, und kann das zur weiteren Aufklärung auch zitieren:

„Als ich mich zum erstenmal im Fernsehen sah, war das wie ein Schock. Mir wurde bewußt, wie sehr mein Aussehen während des Spielens von der Musik ablenkte; Gesten und Grimassen widersprachen nicht nur der Vorstellung, die ich selbst von den notwendigen Bewegungsvorgängen hatte, sie widersprachen auch in grotesker Weise dem, was ich tatsächlich spielte. Man mußte damals die Augen fest schließen, um hören zu können, was ich spielte. Jemand schenkte mir dann einen großen, mehrteiligen Spiegel, den ich neben meinen Flügel stellte; ich sah zwar selten hinein, aber er stand da, und seine Wirkung machte sich geheimnisvoll bemerkbar. Er half mir dabei, meine musikalische Vorstellung mit dem zu koordinieren, was ich durch Bewegungen ausdrücken wollte. Es gibt viele Beispiele für Stellen, in denen der Spieler optisch eingreifen muß. Am Schluß der h-Moll-Sonate von Liszt etwa, vor dem Eintritt des pianissimo auf den drei H-Dur-Akkorden, ist ein wichtiges crescendo auf einem Akkord vorgeschrieben, welches man nur durch eine Körperbewegung suggerieren kann.“ [Alfred Brendel: Nachdenken über Musik. München 1977, S.197.]

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