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Anonym
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kramerVielleicht diskutieren wir das in ein paar Jahren noch einmal, wenn ich dir bezüglich der Übersicht an Aufnahmen und deren Einordnung nicht mehr dermaßen unterlegen bin. Mich erstaunt ja immer wieder, wie unterschiedlich Bewertungen im Klassik-Sektor ausfallen, selbst wenn man sich auf eine gewisse technische Qualität einigen kann. Was ich da schon an unterschiedlichen Bewertungen und Kritiken gelesen habe, ist mehr als verwirrend. Die Winterreise von Christine Schäfer kenne und besitze ich, habe sie aber sehr lange nicht gehört, denn sie hat mich nicht wirklich umgeworfen. Die Einspielung von Christa Ludwig kenne ich nicht.
Von Unter- oder Überlegenheit zu sprechen, ist ganz falsch, kramer. Bei mir ohnehin, weil ich im Vergleich zu einigen Herren hier (gibt’s eigentlich auch Damen?) eine sehr eingeschränkte Kenntnis habe oder doch eine sehr selektive, inzwischen. Und ich finde jede Einschätzung eines Werks interessant, sofern sie sich in mehr als ein paar Wörtern äußert, ganz gleich, wie viel Vergleichskenntnis im Hintergrund ist. Dass, andererseits, mit den Jahren sich manches verfestigen, immer wieder bestätigen kann, das individuelle Hören sich auf bestimmteren Wegen tummelt, das ist einfach so. Aber es bleibt individuell und der Austausch, das Hinüberrufen von anderen Wegen und Ufern, kann immer wieder Anregung sein. Große Anregung! Und das möchte ich nicht missen. Nicht immer kann ich dann, wie bei Petibon, folgen, aber was heißt das schon. Oder nimm also die „Winterreise“. Das ist ein dermaßen prägnantes und also schwangeres Werk, dass man sich gut überlegen muss, wer es zeugen soll. Ich schlafe halt seit Längerem mit Fassbaender und Schäfer; wenn’s Herren sein sollen, Anders und Hotter (bei diesem mehr mit Raucheisen als Moore, aber er geht auch). Aber eben, bei Schäfer und Schneider ist eine Unsentimentalität, eine Aufgeregtheit in höchster Konzentration, mit der ich persönlich den Abgrund verbinde. Aber nicht großartig aufgetragen, sondern einfach präsentiert, fast eine kahle Mauer. Er ist dann da, der Abgrund. Und man (ich übertreibe) kann davor stehen wie Kleist vor einem Gemälde von Caspar David Friedrich: die Augenhöhlen werden umgekehrt.
Diese ganz persönlichen Erfahrungen bestimmen das Hören oder anders gesagt: auf dieser Höhe des Eisbergs (lieben Gruß an gypsy :-)) fühle ich mich wohl, weil dort das Feuer umso feuriger brennt.
Was die Jahre betrifft … selbst habe ich schon hundertmal meine Einschätzungen über den Haufen geworfen, sogar häufiger, als ich konstant geblieben bin. Bei manchen Dingen habe ich den Eindruck, sicher zu sein, so für mich halt, weil ich ja auch aus der eigenen Haut nicht wirklich heraus kann. So für mich halt … ich finde Kants Idee doch recht klug, also, wenn man sagt, etwas sei schön, dann ist das ein Ansinnen auf Objektivität. Ein Ansinnen aber, ein Vorschlag (salopp gesprochen: mit der Knarre in der Hand), denn anders geht es nicht, weil dieses Ansinnen subjektiv ist. Und diese Subjektivität ist unglaublich bereichernd, sie hat so vielfältige Facetten, sie kann von Wissen getränkt sein oder auch nicht, sie kann aus dem Augenblick heraus angesonnen werden – aber, was angesonnen wird, was einer schön findet (Schönheit mal als Sammelwort für Bewegung, Verletzung, Abgrund und auch: Unterm-Sonnenrad-Freudensprünge-Machen und Auf-der-Wiese-Tanzen), ist veränderlich. Das finde ich einen sehr wichtigen Gedanken und von Kritikern erwarte ich, dass sie dies im Bewusstsein haben, wenn sie schreiben. Geschieht selten.
Die „Winterreise“ mit Ludwig und Levine, da musst Du schauen. Ich brauche sie nicht, es war nur die Einspielung auf der unteren Skala der Einspielungen, die ich mit Frauen kenne, um sie zu nennen. Hast Du eigentlich damals den „Pierrot“ mit Salome Kammer besorgt?
gypsy tail windWenn ich Petibon höre, verfalle ich einfach mal ihrer Stimme, der Rest wird zur Nebensache, am Orchester gestörte habe ich mich nun wirklich nicht (und bei „Nouveau Monde“ fiel mir die Begleitung dann mehrmals äusserst positiv auf, gerade da, wo sie über die herkömmliche klassische bzw. barocke Orchestrierung hinausgeht). Ich begreife auch nicht, wie irgendjemand die Mozart-Konzertarien von Natalie Dessay nicht himmlisch finden kann … aber: that’s the way things go.
Das kenne ich ja auch, dieses Verfallen, aber bei Petibon stellte es sich nicht ein. Und dann suche ich im Orchester und dann hört sich das genauso an und dann weiß ich nicht weiter. Aber – das Fingergeklöppel, das nicht eigentlich klassisch ist, ist sowieso leichter. Das trommelt und flötet eben. (Privatvorschlag: Elvin Jones bei mittelalterlichen italienischen Liedern!) Aber, ich habe ja jetzt lange genug gequatscht: Ich finde auch, dass die Dinge ihren Weg gehen. Sollten.
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