Re: Ich höre gerade … klassische Musik!

#8424081  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,343

clasjazEroica also, Toscanini 1949. Das ist in der Tat ein Sprung von I über II. Die Fünfte, wenn ich das heute wiederhöre, scheint mir wie die Einlösung, eine Überarbeitung der Dritten zu sein. Nicht, dass ich ein Freund von Zahlenspielen dieser Art wäre, aber in den geraden Nummern wird Beethoven immer etwas versöhnlich oder ungewiss, je nachdem. Dieser Trauermarsch ist auch sehr eigen. In ihm stöbert ständigt die Revolution – die Hoffnung, dass mit ihr etwas zu ändern, zu erlangen sei. Aber Erlangen und Ändern … das Ändern ist so abstrakt, dass es meist doch nur in Särgen endet, beweint oder unbeweint; wagt es sich hervor, wie in den Revolutionen, bis hin zum Erlangen, tritt leicht die Verstörung ein. Und dies mag ich gerne sagen, dass Beethoven hier einmal eine Verstörung komponiert. Mit allen Torpedierungen, die möglich sind, zur Zeit der Dritten. Die Torpedierung wurde noch einmal aufgenommen in der Fünften, das denke ich dennoch, sogar – ungerade Nummer – in der Siebten. Das sind alles doch dieselben Versuche, einen Anfang zu finden. Das alles ist hoch und sehr bewegt und man müsste die Torturgeschichten eines Hölderlin vielleicht hinzunehmen. „Ich bin kein Jakobiner“ – obwohl er ja einer war. Aber es gab noch die Angst. Das alles schwirrt gerade in diesen Tönen, wenn ich sie höre. Und es gibt ja verschiedene Angstzustände, Beethoven III ist einer mit dieser Facette, aber er hat ja weitergemacht, da ist noch mehr.

Sehr schöne Beschreibung, danke! Es scheint wirklich so zu sein, als seien die ungeraden Symphonien (die siebte habe ich allerdings noch gar nicht im Ohr) Würfe, in denen etwas propagiert oder ausprobiert werden soll. In der ersten war es wohl vor allem mal die Positionierung des Klaviervirtuosen und -komponisten, der seine Reife darstellen wollte, seine Fähigkeit, in die Fussstapfen Haydns und Mozarts zu treten und zugleich über diese hinaus zu gehen, die Musik weiterzutreiben als diese es vermocht hatten.

Manche der geraden Symphonien scheinen ja geradezu als „companion piece“ in unmittelbarer Nachbarschaft entstanden zu sein? Die Vierte, so las ich irgendwo, schrieb Beethoven zwischendurch während der Arbeit an der Fünften? In ihrer frohen und aufgestellten Art ist sie sehr anders als die Dritte und ja, auch als die Fünfte – ein sehr schönes, mancherorts überschwängliches Stück Musik, dem die Schwere und Bedeutungsschwere der Dritten und der Fünften abgeht – Schubert hat sie „eine griechisch schlanke Maid zwischen zwei Nordlandriesen“ genannt? Griechisch wäre heute wohl nicht mehr unbedingt der Vergleich, den wir ziehen würden, aber doch, das leuchtet mir sofort ein. Manches klingt der Ersten so unähnlich nicht, im ungestümen und ungebrochen optimistischen Gestus, aber die Tonsprache hat sich doch deutlich fortentwickelt.

Ich habe die Vierte gestern in der Gardiner-Einspielung angehört (nach der Dritten, vor der Ersten, bei der Zweiten reichte es danach nur noch für den ersten Satz) und bin von diesen Interpretationen überhaupt sehr angetan. Da wird mit viel Engagement musiziert, das Klangbild ist äusserst transparent und ausgewogen, so anders als bei konventionellen Orchestern ist das insgesamt für meine Ohren nicht, aber es gibt doch immer wieder Momente und Stimmen – die Hörner, die Kesselpauken – die deutlich heftiger klingen, weniger gepflegt, unmittelbarer. Das finde ich sehr, sehr schön! Und ich liege wohl nicht falsch mit der Annahme, dass ein späterer Zyklus wie derjenige von Zinman mit dem Zürcher Tonhalle Orchester sich auch bei Gardiner bedient und – mit konventionellem Instrumentarium – die Klarheit und Schnörkellosigkeit und den direkten Zugriff auf die Werke wenigstens zu Teilen abgeschaut hat? Jedenfalls empfinde ich eine recht enge Verwandtschaft zwischen den beiden. Andere jüngere Einspielungen habe ich nicht – gibt es unbedingt zu empfehlende? Ich bin an sich nicht auf der Suche … aber Zinman scheint mir wirklich sehr gut zu sein, und wenn es davon mehr gibt oder noch Besseres, lasse man es mich bitte wissen!

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba