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Ich konnte es nicht lassen – gestern nachmittag bestellt, jetzt schon im Player. Sehr, sehr eigenartig. Ich habe gerade die „Chaconne“ aus der zweiten Partita gehört, und das ist komplett andere Musik, als man sie kennt.
Aus den Liner Notes von Graham Silcock (in der deutschen Übertragung):
Einem Anhaltspunkt in den Schriften des Komponisten Georg Muffat (1653-1704) folgend, ersuchte Telmányi den dänischen Bogenbauer Arne Hjorth um einen konvexen Rundbogen mit verschiebbarem Frosch, an dem der Daumen den Bezug während des Spiels spannen bzw. entspannen könne. Die gelockerten Haare würden den gleichzeitigen Vortrag von drei oder auch vier Stimmen ohne Arpeggio ermöglichen. Diesen Bogen verwendete Telmányi, als er anlässlich des 200. Todestages von Bach seine Werke für Violine solo bei dem Edinburgh Festival spielte. Der Glasgow Herald berichtete von dem neuen Erlebnis, eine getragene Melodie hören zu können, bei dem der Interpret nicht nach den stützenden Akkorden schnappen musste.
Allerdings ergaben sich Probleme bei Sätzen wie den Finales der drei Sonaten, deren lange einstimmige Partien einen straff gespannten Bogen erfordern. […] 1953 entwickelte ein anderer Bogenbauer nachmes Knut Vestergaard ein geschicktes Verfahren, um den Frosch während des Spiels mechanisch ein- und auszuschalten. […] Fotos von Telmányi mit dem Vega-Bogen demonstrieren einen riesigen, konvexen Rundbogen mit dickem Bezug, der sämtliche vier Saiten dicht berührt. […]
Der Vega „Bachbogen“ hat mit dem Geigenbogen des Barocks nicht das Geringste zu tun. Seine Innovationen gehören entschieden dem 20. Jahrhundert an; ihr Ideal war die notengetreue Realisierung von Bachs Werken. Ein halbes Jahrhundert später scheint dieses Ideal fraglich. Heute fällt der garantiert authentsiche Text weniger ins Gewicht als das Bestreben, Instrumente zu bespielen, mit denen der Komponist vertraut war, und sich so weit wie möglich an das damalige Stilgefühl zu halten. Sicher war der Steg abgeflachter und der Bogen nachgiebiger, aber trotzdem glaubt heute niemand, dass Bachs Klangbild mit Telmányis Ton vergleichbar ist – beispielsweise zu Beginn der Chaconne, des letzten Satzes der Partita d-moll. Ohne deutlich hörbaren Ansatz oder die Arpeggien fragt man sich sogar, ob es sich überhaupt um eine Violine handelt – oder eine Harmonika?
Das fragt man sich beim Hören in der Tat an einigen Stellen! Natürlich ist jegliche Art von Authentizitätsdebatte oder -verhalten stets in Bezug zur umgebenden Zeit zu betrachten und es ist wohl davon auszugehen, dass spätere Epochen auf die „historische“ Aufführungspraxis jüngerer Zeit ebenso verwundert blicken weden … na ja, mal schauen, ob ich die Aufnahmen irgendwann komplett hören mag, heute jedenfalls nicht, und viel dringender muss ich Szeryng hören!
Die Telmányi-CD war sowieso nur die gerade heruntergesetzte Beigabe zur Bestellung des obigen Sets, das derzeit bei discplus.ch – einen direkteren Link kriege ich nicht hin, sorry – für den lächerlichen Preis von € 10.04 zu haben ist. Es wurde mir anderswo wärmstens empfohlen, und obwohl ich bisher mit Cembalo eher wenig anfangen konnte, gefällt mir die erste CD – sie ist kurz, enthält nur das „premier livre“ der Cembalostücke, auf CD2 gibt’s die Stücke von 1724 sowie „La Dauphine“ (1747), auf CD3 die „Nouvelles suites“ und auf CD4 dann die „Pièces de clavecin en concerts“ (1741), mit Valérie Balssa (Flöte), Catherine Girard (Violine) und Emmanuel Ballsa (Gambe). Ich bin jetzt am Beginn der zweiten CD, mal schauen, wie lange ich das Cembalo ertrage
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