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pinch3. CONCHITA WURST – Rise Like A Phoenix (Österreich, 2014)
No, Sir! Musikalisch ist das großer Mist.
Der Plattenkritik von Tex Rubinovitz ist nix hinzuzufügen.
Conchita Wurst – „Conchita“
(Columbia/Sony, seit 15. Mai)Seit 1974 hat nie wieder jemand etwas Größeres aus einem Sieg beim Eurovision Song Contest machen können. Damals hießen die Sieger ABBA. Nur die Kanadierin Celine Dion, die 1988 für die Schweiz sang und siegte, konnte eine Karriere nach dem Legionärsjob machen, weil in Kanada kein Mensch weiß, was der ESC ist oder was er soll.
So ein Sieg ist also ein Stigma, man kann ihn nicht von der irisierenden Seifenblase lösen, die der Wettbewerb nun mal ist, die einmal im Jahr im Mai in irgendeiner europäischen Stadt landet, und dann platzt. Dann ist es aus, und der Siegertitel klingt entkontextualisiert so altbacken wie Brot, das man nicht mehr beißen kann und mag.
Als vor ziemlich genau einem Jahr Conchita Wurst den Eurovision Song Contest in Kopenhagen gewann, bot sie deshalb als Mehrwert noch ein ganzes Zusatzpaket an, bei dem das Lied der kleinste Teil war – der codierte Rest war eine sich gut anfühlende Botschaft, Inszenierung und Attitüde, bei der aber aus jeder Ritze auch noch sirupartig Marketingkalkül troff.
In diesem Jahr tritt mit Pertti Kurikan Nimipäivät eine ähnliche Haltung an, nur sind die einzelnen Teile noch schärfer voneinander getrennt. PKN kommen aus Finnland. Es sind Jungs mit geistigen Behinderungen und sie singen ein ultrakurzes, grauenvolles Punkrockstück. Aber darum geht es nicht, das ist vielleicht die ehrlichste Verweigerungshaltung, die Punkrock nie hatte: Wir lassen uns auf die ganzen Abmachungen erst gar nicht ein, wir sind wir, uns hat das finnische Volk gewählt, unsere Nation in Wien zu repräsentieren, und wenn du ein Problem mit uns hast, dann schau oder höre weg, aber wir bleiben trotzdem da!
Dass Conchita Wurst nun nach einen Jahr genau in dieser Woche ihr erstes „Album“ oder was auch immer das sein soll, veröffentlicht, ist in gewisser Weise die Verzweiflungstat, sich in diesen kurzfristigen ESC-Taumel, der gerade in Wien stattfindet, einzuklinken, denn hätte sie es vorher irgendwann veröffentlicht, wäre sie abgesoffen wie Celine Dion es mit ihrem späteren „Titanic“-Lied eben nicht ist.
Conchita Wurst kann singen, das steht außer Frage, aber wen interessiert das? Die Lieder sind so steril wie zu heiß gewaschen, man kann sie nicht anfassen, man kann sie nicht hören. Nichts gegen Künstlichkeit, aber diese Lieder sind in allem so falsch wie ihr Haupthaar. Conchita hat Charisma, aber ihre Lieder haben es eben nicht. Es nützt nichts, da und dort prachtvolle Eurotrash-Elemente von Cher und Erasure zu entdecken, wenn die Teile nicht zusammenpassen. Es wird nicht camp, wenn man campe Zitate nur nach einem billigen Bauplan zusammenlötet. Relevanz kann man nicht bei einem Wettbewerb gewinnen.
(1.0) Tex Rubinowitz
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I'm pretty good with the past. It's the present I can't understand.