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Napoleon DynamiteIch war gestern für den Rolling Stone beim Berliner Konzert.
Anmerkungen und Betrachtungen zu einer Konzertkritik unter besonderer Berücksichtigung persönlicher, euphorischer und musikalischer Entwicklungsprozesse aufstrebender rezeptioneller Texterzeugung unter Einbindung privater Individualinteressen sowie Artikulationsstärken und im Hinblick auf die These: Kritik darf und soll auch an Kritik möglich sein.
Vorausschicken möchte ich, dass ich die meisten Forumsbeiträge und Gedanken (vor allem die cineastischen) von Napo gerne lese, weil sie oft nachvollziehbare Leidenschaft (in positiven wie negativen Urteilen) und thematische Tiefe zu transportieren verstehen; selbst dann wenn ich eine andere Wahrnehmung habe und die geäußerten Eindrücke so nicht teile oder erst nach Hinzuziehung eines Wörterbuches verstehe. Mir ist bewusst, dass die folgenden Zeilen Napo verärgern könnten und sie vermutlich nur als reine Provokation wahrgenommen werden. Dies sollen sie aber nicht, sondern vielmehr Feedback einer Leserin, die die Wirkung der betreffenden Konzertkritik in Form einer Einzelmeinung wiederzugeben versucht.
Was den Text von Napo betrifft, der wohlgemerkt ein Konzert und weniger ein Album bewundernd wiederzugeben versucht, so ist dies für mich ein Dokument lustvoll überbordender Begeisterungsfähigkeit, ein emphatischer Erlebnisbericht des Augenblicks, welcher auf Grund naturgegeben fehlenden zeitlichen Abstands jedoch zu keiner differenzierteren Betrachtung der Musik im Stande ist. Andererseits dürfte natürlich jedem klar sein, dass der Nachbetrachtung eines Konzerts auch eine andere Rezeptionsweise widerfährt, als einer ausschließlich auralen Begutachtung einer CD bzw. einer LP (und zudem mit dem Vorteil ihrer beliebigen Wiederholbarkeit). Nun macht es allerdings wenig Sinn emotionale Eindrücke zu kritisieren, da sie selbstverständlich das gute Recht eines jeden Kritikers sind. An der Form eines veröffentlichten Textes sollten aber einige kritische Anmerkungen erlaubt sein.
Zum einen finde ich es immer sehr schade, wenn sich ein durchaus lesenswerter Text durch intellektuelle Verzierungsschnörkel oder aufgeblasene Formulierungen der allgemeinen Lesbarkeit zu entziehen versucht und zum anderen der berauschte Wortakrobat durch seine handwerkliche Kunstfertigkeit und sein Talent zur Selbstverliebtheit in den Verdacht gerät, das zu sein, was man in anderen Sprachzonen gelegentlich ein Gscheidhaferl oder einen Tüpflischiisser nennt.
Wer im Zusammenhang mit einem Konzert von mählich ausbrechendem Magma, energetischen Brocken ohne Retardation, sonischer Überwältigung, divergierendem Material, Inklinationen, inhärentem Idiom, con arco gestrichenem Bass oder einem Radialsystem spricht, vermittelt dem Leser zwar ein Gefühl von Wichtigkeit, Wortgewalt und Wortschatz des Kritikers und seiner deutlich vorgeführten Überlegenheit dem Leser und den unverständigeren Kritikern gegenüber, aber Verständlichkeit und eigentliches Anliegen etwas näher bringen zu wollen gehen dabei mächtig in die Knie. Wenn die Band dann auf hell lodernden Feuern und inspiriert “in the moment” spielt, leuchtet in diesem farbenprächtigen Geflamme für einen kurzen Moment auch der Manierismus und Art-Déco-Stil von Meister Doebeling auf, dem hier wohl nachgeeifert werden will. Methinks.
Abschließend möchte ich zwei Sätze aus Napos Konzertbesprechung erwähnen, die ich sehr sympathisch fand und in denen der Kritiker auch erstmals selbst in Erscheinung tritt. Zum einen handelt es sich um einen Moment echter Verzückung, in dem sich wundervoll selbstvergessener Spielrausch eines der Musiker mit entsprechender und augenblicklicher Wahrnehmung des Kritikers trifft, die er später in einer durchaus poetischen Miniatur festhalten wird (“Und es passiert der schönste kleine Moment des Abends: Mats, dieser Riese in Halbmasthosen und gebundenen Boots, beginnt im Hintergrund selbst zu tanzen”), zum anderen eine Szene nach dem alle Sinne aufgewühlt habenden Konzerterlebnis (“Vor dem Gebäude tobt in Berlin der bislang stärkste Regen des Sommers, ein Stoß zerreißt meinen Regenschirm und ich bin innerhalb von wenigen Sekunden durchweicht”). Die Realität hat den Kritiker wieder eingeholt. Bezaubernd.
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Dies ist eine Einzelmeinung, die auch so verstanden werden möchte, und soll niemanden kränken oder verletzen.
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