Re: Irrlichts Introducing

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irrlicht
Nihil

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[B]Daughter Youth

„If you leave“ bietet weit mehr als das, was man mit Kühle, Kälte und Winterdepression beschreiben könnte – es hat jedoch auch seine kleineren Tiefen. Und auch wenn „Smother“ von faszinierender Schönheit und Intimität ist, so ist es letztlich doch „Youth“, Daughters vierte Single, die mich immer wieder gespannt an die Anlage treibt. Ich halte diesen Song nicht nur für vollkommen makellos, sondern für den vielleicht größten Track des bisherigen Jahres.

Elena Tonra verfasst auf eine ganz spezielle Weise, denn ihre ersten Zeilen setzen oftmal mitten im Geschehen an. Eisschollen treiben dabei getrennt, als Sinnbild der zerbrochenen Beziehung, übers Nordmeer; die Welt erwacht von Neuem, nur fortan aus den Augen eines Tieres, dessen Gerippe der wirkliche Käfig unserer Existenz ist; der Wind kühlt die Skelette der Bäume, jede Schicht unserer Haut die zu Blättern wurde, die Glieder, aus denen Äste und Rumpf wuchsen. Diese Liste an Metaphorik ist endlos. Tonras Lyrik ist fein, intim, bildreich – und persönlich genug, um mich immer wieder ans Textblatt zu bringen. „Youth“ macht davon keine Ausnahme: Erste Schatten legen sich zu Anfang dort ab, wo ehemals noch etwas war. „Youth“ ist zwar ein Track der Liebe, Schmerz und Trennung thematisiert, der sich aber eine Randnotiz erlaubt: Dort wo er droht in bekannte Szenarien abzutauchen, wählt er die Umwege über Gedanken, die nicht nur singulär sind, sondern die Stimme einer übergeordneten Jugend behandelt. Ein Kniff, der auf „If you leave“ mehrfach anzutreffen ist.

„Youth“ ist ein Song über eine schnelllebige Welt, in der das Grab bereits ausgehoben ist, ehe man bemerken konnte, wie kostbar sie ist. Bereits im ersten Absatz wechselt Tonra dazu zwischen Innen- und Außenperspektive, verbildlicht das Gefühl, einen prachtvollen Weg begonnen zu haben – und am Ende dort angelangt zu sein, wo ein Schild am Straßenrand steht mit Aufschrift: Last exit emptiness. Charismatisch ist, dass der Song aber nicht bei dieser Tristesse bleibt, sondern eine ungewöhnliche Art der Versöhnung mit sich bringt. „And if you’re still breathing, you’re the lucky ones.“ heißt es dort – die Worte gehen damit in einen Vergleichskontext über: Du gehörst zu den Glücklichen, wenn Du noch atmest. Dieser Sprung über mehrere Ebenen und Perspektiven hinweg ist entscheidend und zieht sich über alle drei Versabsätze. Die wilde Jugend sucht darin sorglos nach der ewigen Wahrheit und stirbt, ehe sie sie finden kann. Sie brennt und liebt und sammelt Erinnerungen und Bilder all derer, die längst vergangen sind – und steht vor den Trümmern, die die große Flut von ihrer Heimat hinterlassen hat. Und mit jedem Tag übt sie sich in dieser Verdrängung – dem Vergessen, das etwas Substantielles verloren gegangen ist.

Das ist die textliche Ebene. Die Musikalische ist jedoch nicht minder fabelhaft und ich muss an mich halten, so großartig finde ich jeden Ton dieser Aufnahme. Es beginnt mit einer warmen, auf- und abfallenden Melodie-Triade, die den ganzen Track begleitet – es gehört viel Feingefühl dazu, einen Song nun immer weiter zuzuspitzen. Teilweise zieht sich das Instrumentarium kurz zurück und der Gesang schwebt eindringlich über seinen Worten – oder die Hook wird durch große Stürme begleitet. Etwas Vergleichbares habe ich allenfalls auf Songs:Ohias „The lioness“ Aufnahme vernehmen können – es ist die vollkommen geglückte Symbiose aus Text und Ton. Tonras heller, hauchender Gesang verleiht dem Track dabei beständig ein warmes Frösteln. Weicht die Stimme zurück, tritt Schlagzeug und Gitarre in Reichweite; wird der Gesang bestimmter, surren die Saiten durch die Aufnahme, man hört das näher kommende Rascheln von Becken; und mit jedem Vers steigert es sich weiter – ich habe selten einen Track mit einer ähnlichen Steigerungsdynamik erlebt. Der letzte Satz wird immer mit starkem Nachdruck gesungen, hallt in den Refrain über und wird dann von sich staffelnden Rhythmen mitgetrieben.

Ganz am Ende bricht der Song dann förmlich, klingt ekstatisch und zupackend – als habe sich die Hand im letzten Moment ausgestreckt, um das zu sich zu zerren, was fast verloren ist. Ein Paradebeispiel für die Einheit dieser Aufnahme, denn sie endet schlussendlich auch textlich mit einer großen Bestimmtheit, mit Abwendung und Ausbruch: „Setting fire to our insides for fun/To distract our hearts from ever missing them/But I’m forever missing him/And you caused it“.

Meisterstück.

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Hold on Magnolia to that great highway moon