Re: Irrlichts Introducing

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carrot-flower
Moderator

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In den letzten Tagen habe ich „Red Apples“ (neben „River Guard“ mein liebster Callahan-Track) einige Male gehört, weil ich dachte, „Ach, wenn Irrlicht sich solch eine Mühe macht, muss man darauf doch auch inhaltlich reagieren.“ Und dann tuckert das Hirn an und deutelt und deutelt, und ich wache nachts auf mit „Red Apples“ im Ohr. Also, raus damit, damit ich den Apfel-Wurm loswerde. Zu einer Gesamtdeutung bringe ich es aber nicht bei Callahans Eros-/Tod-Bilderlotto. Ich pick mir einfach was raus.

IrrlichtEin benommener, fast leblos dahin treibender Song ist „Red apples“.

Wie so oft, höre ich das etwas anders. Auch für mich wird eine gespenstische, von der Welt losgelöste Atmosphäre heraufbeschworen, aber es gibt viele sehr dynamische und gefühlvolle Elemente, die dem Track Lebendigkeit verleihen, und auch in Strophe 1 und 3 eine Handlung mit Interaktion und Bewegung (auch wenn diese nicht vor Quicklebendigkeit vibriert). Callahan singt für seine Verhältnisse innig, mit starker Betonung, und die aufsteigenden Klavierakkorde nebst wieder absteigender Melodie rhythmisieren den Track. Ich muss, passend zum Bild des Flusses, an bewegtes Wasser denken (hast du ja in deiner Deutung auch genannt). Können wir uns auf den Styx einigen? Und/oder darauf, dass der Song zumindest verschlafen wassertritt, also auf bewegte Art nicht von der Stelle kommt?

ein langsamer, spürbarer Verfall

Für mich ist der Song repetitiv, da verfällt schon nichts mehr, eher staubt es (trotz des Flusswassers), the worms have left the building :-)

Symbolik war Callahan wohl nie fremd

:wow: (‚tschuldige die kleine Frechheit.)

Eine Witwe am Fluss?

Ja, was treibt die denn da? Wie oben schon erwähnt, bei Callahans zentnerschwer aufgeladener Bildsprache drängt sich eine lückenlose Dechiffrierung nicht gerade auf. Gut so.
Beim Bild einer Frau in Trauer an einem Fluss fiel mir natürlich als Erstes der Totenfluss der griechischen Mythologie ein. Interessant ist, dass dieser Fluss anscheinend weder überquert wird, noch die Protagonisten irgendwo hin bringen soll, was der Szenerie tatsächlich eine seltsame Gebremstheit verleiht. Die Möglichkeit einer Reise oder Transformation ist vorhanden, wird aber nicht genutzt. Dass die Witwe noch in Trauer ist, wird in Strophe 2 ja deutlich, sie trägt noch Schwarz. Durch mehr wird sie auch nicht charakterisiert. Sie kann dem Lyrischen Ich, das sie ja gezielt aufsucht, irgendeine Form des Handels anbieten, der irgendetwas mit ihrer wie auch immer gearteten Verbindung zum Totenreich zu tun haben muss (stelle ich mal in den Raum, Umstellen erlaubt). Eine Witwe in Trauer ist ja eine tragische Figur, jemand, der einen großen Verlust erlitten hat (lustige Witwen seien hier mal vernachlässigt), irgendwo zwischen Dies- und Jenseits lebt und während seiner Trauerzeit seiner Umwelt Distanz und Takt abfordert, einen gewissen Respektspersonen-Status inne hat. Welcher Art der Einfluss hier ist, wird aber nicht recht deutlich, ebenso wenig, weshalb Callahan hier die Witwe statt einer Hexe oder Göttin wählt. Vielleicht, um Esoterik auszuschließen (wäre mir sympathisch). Nun kommt der rote Apfel ins Spiel, Symbol der Sinnlichkeit, der Verführung, der Sünde, aber im Märchen auch Auslöser tödlicher Nickerchen. Die ergänzende und die Strophe bedeutungsvoll beschließende Nennung der Farbe wendet den ganzen bisherigen Track, der rote Apfel leuchtet aus all der Fahlheit heraus. Ob er bedeutet, dass die Witwe den Erzähler als neuen Mann erwählt hat, ob der Apfel den folgenden langen Schlaf auslöst oder nicht, erfährt man nicht. In jedem Fall vertraut sich der Erzähler für ein Jahrhundert (warum er wohl nicht ein märchenhaftes „a hundred years“ schreibt?) ihren schwarzen Armen an, ein Bild, das für mich nicht unbedingt behaglich wirkt, ich muss an eine Schwarze Witwe denken. Was der Erzähler durch diesen langen Schlaf gewinnt, wird nicht deutlich, nur, dass er eine Gegenleistung für angemessen hält. Nun wird es vollends großartig.

„Sie wollte nichts dafür/Ich gab ihr nichts dafür“ – auch hier fällt mir die Deutung schwer, die Sätze klingen dringlich und bewusst gewählt, nicht wie eine nachgeschobene Randnotiz.

Ich bin geneigt, das „Nichts“ groß zu schreiben, denn es scheint mir sehr wohl ein Etwas zu sein, es wird so stark betont. There’s a whole lot of Nothung goin‘ on! Der eine zieht sich für 100 Jahre aus der Welt zurück, die andere verlangt Nichts dafür. Ob man das jetzt mit „Lethe“ übersetzen kann, keine Ahnung, aber man lehnt sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man mutmaßt, dass es für beide eine Menge zu vergessen gibt, und festhält, dass dies nur über einen Handel oder (wie du es nanntest) Pakt möglich ist.

Deine Deutung der letzten Strophe ist mir etwas zu sehr an der Realität gemessen und bekommt dadurch Schlagseite, und gegen Ende hast du mich ganz verloren. Ich glaube gar nicht, dass der Erzähler zum Sisyphos wird, und das „Pferd“ tut mir auch nicht leid (to pull up bedeutet übrigens nicht notwendigerweise „hochziehen“, sondern kann auch einfach „heranziehen“ bedeuten). Ich finde die Strophe auch sehr unzugänglich, aber ein paar Ideen kann ich beisteuern:

Der ehemals betrauerte Ehemann wird hier quasi auf doppelte Weise als solcher demontiert oder im Gegenteil erhöht. Er tritt in der eh schon jenseitigen Szenerie als Geist auf, zudem verglichen mit einem Tier, zwar schön und stark, aber doch ohne echte Einwirkungsmöglichkeit und nicht auf Augenhöhe mit einem Menschen, ein Bild männlicher Kraft, aber eben jenseitig. Wenn man mich zu einer Deutung zwingen würde, würde ich sagen, der Verflossene gibt durch das Schenken (?) der unzähligen Äpfel der neuen Liebe, nee, sagen wir lieber, dem neuen Verhältnis (immerhin gibt es jetzt ein „us“), seinen Segen und ermöglicht den unendlichen Zyklus von gemeinsamem Vergessen.

Wie aus all dem eine schlüssige Deutung werden soll, wird uns nikodemus verraten, ich freu mich drauf :-)

--

the pulse of the snow was the pulse of diamonds and you wear it in your hair like a constellation