Re: Bill Frisell

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friedrich

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Ich habe nach 2005, also nach Unspeakable und Richter 858, jahrelang kein Interesse mehr an Bill Frisell gehabt. Diese beiden Alben waren zwar im Oeuvre von BF sehr originell, aber fast schon so etwas wie Ausreißer, denn abgesehen davon bewegte er sich eigentlich zwar auf hohem Niveau, aber irgendwie doch etwas zu routiniert im Jazz goes Country & Western-Gebiet. Ein paar Zusammenarbeiten mit etablierten Jazzgrößen wie Jack Holland und Jack DeJohnette gab es zwar, aber auch das versprach für mich nicht gerade die Möglichkeit unbekannte und damit überraschende Landschaften zu entdecken. Erst letztes Jahr (2011) habe ich mich mal wieder an eine Platte mit Bill Frisell herangetraut.

Vinicius Cantuária & Bill Frisell – Lágrimas Mexicanas (2010)

Vinicius Cantuária: voc, perc, ac-git; Bill Frisell: ac + el-git, loops.

Vinicius Cantuaria haben wir schon auf Bill Frisells multi-kulti Ausflug mit The Intercontinentals kennengelernt. Ebenso wie The Intercontinentals ist auch Lagrimas Mexicanas ein Ausflug in ein Gebiet außerhalb der nord-amerikanischen Kultur. Anders als auf Intercontinentals ist jedoch die Besetzung deutlich reduzierter und das musikalische Spektrum knapper. Das fake-folkloristische Cover und der Titel täuschen jedoch, denn auf Lagrimas Mexicanas (dtsch: „Mexikanische Tränen“) gibt es keineswegs nur mexikanische Musik – eigentlich nicht weiter verwunderlich, da Vinicius Cantuaria Brasilianer ist, wenn auch mit Wohnsitz in New York, wo er u.a. mit Laurie Anderson, David Byrne, Brian Eno, und Arto Lindsay zusammenarbeitete. Damit kann man schon ein wenig erahnen, woher bei der Zusammenarbeit von Cantuaria und Frisell der Wind weht.

Lagrimas Mexicanas bietet dann auch tatsächlich einen eklektizistischen Mix verschiedener Spielarten latein-amerikanischer Musik, aber durch die Brille zweier Musiker betrachtet, die beide jahrelang im kulturellen Mix verschiedener musikalischer Traditionen durchgequirlt worden sind. Der 7-minütige Opener Mi Declaracion hat eine schleppenden sexy Groove, der fast schon in Richtung trip hop geht, wäre diese Musik nicht ohne elektronische Beats aufgenommen. Das klingt sehr organisch und handgemacht, die elektrischen Zutaten beschränken sich auf Frisells elektrische Gitarre, mit der er den von Vinicius Cantuaria mit zarter Stimme gesungenen Stücke Würze verleiht, so wie Schokolade mit Pfeffer, bei der sich die Süße an der Schärfe reibt. Das Titelstück hat etwas von Tex Mex, mit Cafezinho (dtsch: „Tässchen Kaffee“) gibt es ein Kabinettstückchen eines Gitarrenduos, ein bisschen Bossa Nova, etwas Samba soweit ich das erkenne kann usw., denn ich bin kein Experte in lateinamerikanischer Musik. Da müsste mir ein kundigerer Hörer etwas unter die Arme greifen … Alles sehr entspannt, samtig-warm, mit herb-süßen Aromen. Ein feines Gewebe der beiden Gitarren und Cantuarias understateter Perkussion, in das Bill Frisell hier und da etwa Gitarren wah-wah und loops mischt.

Lagrimas Mexicanas ist bestimmt keine große Platte, dazu fehlt ihr die Geschlossenheit, vielleicht auch der programmatische Anspruch von z.B. The Intercontinentals. Mit gerade mal gut 40 min Laufzeit ist sie auch nicht so ein Brocken wie manch andere Aufnahmen von Bill Frisell. Das stört aber nicht im geringsten, denn stattdessen hat sie eine spielerische Vielfalt, Gelassenheit und Leichtigkeit, die sie zu einem Vergnügen macht. Sehr zu empfehlen. Vor allem im Sommer.

Vinicius Cantuária & Bill Frisell – Calle 7:

http://www.youtube.com/watch?v=SL6BdeePiI0

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)