Re: Bill Frisell

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Ich springe chronologisch mal etwas umher: Bill Frisells Album Intercontinentals ist noch in der Post. Seit ein paar Tagen läuft aber Unspeakable, das erst nach Intercontinentals erschien, bei mir in der heavy rotation. Beiden Alben ist wohl gemein, dass Bill Frisell sich damit zumindest vorübergehend von dem Americana-Idiom abwendet, das er die Jahre zuvor ausgiebig gepflegt hatte. Ein guter Zug, denn irgendwann ist eine Sache auch ausgereizt und auch mir wurde Bill Frisell damit etwas zu vorhersehbar.

Unspeakable (2004)

Bill Frisell: git; Hal Willner: turntables, samples, prod.; Tony Scherr: b.; Kenny Wollesen: dr.; Don Alias: perc.; Steven Bernstein: tp; Briggan Krauss: b-sax.; Curtis Fowlkes: tb.; Adam Dorn: synth.; The 858 Strings: Jenny Scheinman: violin; Eyvind Kang: viola; Hank Roberts: cello

Wenn Bill Frisell auf Ghost Town ganz alleine zuhause war, so ist er auf Unspeakable in zahlreicher Begleitung in der großen Stadt unterwegs. Das Cover zeigt eine Collage von all dem urbanen sozialen Mix der Großstadt mit verschiedenen Hautfarben, Kopfbedeckungen, Haar- und Barttrachten, Hund und Katz, allerlei sonstigem Beiwerk sowie Häuser und Autos, die allerdings allesamt so aussehen, wie Bill Frisell sie wohl aus seiner Kindheit in Erinnerung hat. Darüber ein Werbebanner mit Bill Frisells Namenszug. Eine freundliche Bilderbuchversion von Großstadt.

Insgesamt sind 12 Musiker an Unspeakable beteiligt, darunter 3 Bläser (u.a. Steven Bernstein und außerdem mit Tony Scherr und Kenny Wollesen noch zwei andere Mitglieder von dessen Band Sexmob) und drei Streicher. Eine Sonderrolle hat dabei Hal Willner als Produzent, der nicht nur mit turntables und samples mitmischt sondern auch als Autor oder Co-Autor einiger Stücke genannt wird. Eher eine Platte von Hal Willner als von Bill Frisell also? Auf jeden Fall ist der Einfluss Hal Willners, der Alben u.a. von und/oder mit Laurie Anderson, Lou Reed, Brian Eno, Allen Ginsberg, Wynton Marsalis, John Zorn und Sun Ra oder tributes für Thelonious Monk, Kurt Weill oder die Filmmusiken von Walt Disney-Filmen produziert hat, mehr als deutlich zu hören. Er platziert Bill Frisell auf Unspeakable in teils sehr unterschiedliche musikalische Zusammenhänge. Eine Grundzutat scheint dabei der orchestrale Soul im Stile von Curtis Mayfield und Issac Hayes zu sein, der aber mit Elementen aus unterschiedlichsten Zusammenhängen versetzt wird: Gleitet das erste Stück 1968 noch etwas gefällig und unverbindlich daher (und das bei diesem Titel?), so hat White Fang einen schwer groovenden Beat mit fetten Bläsern und einem Bill Frisell, der endlich mal wieder kräftig in die Saiten greift. Auf Stringbeam setzt Hal Willner loops ein, auf die BF mit dissonanten Sounds antwortet, bei Who Was That Girl? erwartet man fast schon den Gesang von Curtis Mayfield und Fields Of Alfalfa kommt mit einem – gesampelten – orientalisch wirkenden Flötensound daher. Old Sugar Bear windet sich erst minutenlang aus einem formlosen Gewaber heraus, bis Bill Frisell die Saiten kreischen und Hal Willner die gesampleten Bläser schmettern lässt. Darunter mischen sich immer wieder kleine musikalische Skizzen wie das nur von Bill Frisell und den drei Streichern gespielte Hymn For Ginsberg oder Gregory B. und D. Sharpe, die fast so klingen, wie die musikalischen Meditationen von Ghost Town – nur hier eben in Begleitung von Streichern und/oder den samples und turntables von Hal Willner.

Es gibt auf Unspeakable keine herausragenden Solo-Leistungen zu hören, selbst Bill Frisell ist nur eine Stimme unter vielen, die sich nur gelegentlich etwas in den Vordergrund spielt. Die Platte ist von Bill Frisells vorhergehenden Americana-Aufnahmen ebenso weit entfernt wie von Jazz. Unspeakable ist eher eine eklektizistische Pop-Produktion mit aufwändigen Arrangements und Overdubs (die Platte ist zum größten Teil in Kalifornien aufgenommen, die Bläser aber komplett in New York), die Elemente aus Jazz, Rock, R&B und „World“ integriert und mit den drei Streichern klingt das sogar manchmal wie klassische Kammermusik. Hier und da wirkt das zwar auch etwas beliebig und gefällig, aber dann gibt es auch wieder Momente, wo es richtig kracht. Eine ebenso gelungene wie willkommene Abwechslung in Bill Frisells Werk, die in dieser Art meines Wissens einzigartig ist. Amüsante Platte

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)