Re: Blind Fold Test #10: JanPP

#8323019  | PERMALINK

vorgarten

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ach, schon wieder erster… nur, weil ich mir unbekanntes gerne vom leib schreibe…

ganz schöner & diskussionswürdiger bft, wie ich schon dachte. hat viel mit der sehnsucht zu tun, als jazzmusiker elektronik zu integrieren oder als electro-musiker den jazz – und mit der frage, was besser funktioniert… insgesamt alles sehr soundorientiert, sehr pianistisch, recht harmonisch und weich, ohne oberflächlich zu sein. bin sehr gespannt, was die anderen davon halten. hier jedenfalls meine bescheidenen kommentare:

#1
eine kleine drone macht den anfang. oder bordun, oder – passender – orgelpunkt. könnte aus einer synthesizer-frühphase stammen, 50er oder früher 60er. in dem bisschen, was da kommt, deuten sich fernöstliche motive an. dramaturgisch, als einstieg, erst mal beruhigend. eigentlich ist mir das aber zu wenig.

#2
don cherry? sehr ethno jedenfalls, mit einem klavier, dass eher nach grand piano als nach saiten und kleinen hämmerchen klingt. die tabla ist ganz schön gespielt, soweit ich das beurteilen kann, aber klavier und diese kitschige bridge verleiden mir das alles ein wenig. so gar nicht meine tasse tee.

#3
come as you are. beim intro dachte ich zuerst an einen elektronik-ausgangspunkt, jemand spaßiges und jazzaffines wie squarepusher z.b., aber dann kommt die trocken aufgenommene trompete und ich kann das alles eher in einer mäßig coolen jazzer-ecke ansiedeln. dachte an das rainer-winterschladen-projekt mit dem großartigen dj illvibe (dem sohn von schlippenbach, der wirklich jazzmäßig mit turntables improvisiert) – blue box oder wie die heißen – aber eine kurze recherche haben mich das schnell finden und richtung osteuropa schauen lassen. mhh. nicht schlecht, aber irgendwie etwas gewollt spaßig – cobain wird oft und gerne von jazzern gecovert und das wahrscheinlich zurecht und aus gründen, die weit über das genre-sprengende hinausgehen. aber mehr als diese geste hat es hier nicht unbedingt.

#4
hier geht’s elektroaustisch weiter. bisschen klimperig, das klavier. leichte kitschtendenz trotz des unkitschigen settings. schön, wie das gesampelt und processt da reingerät. der beat, der sich dann entwickelt, vor dem gegenlaufenden metrum des elektroloops und mit den warmen akustischen akzenten des klaviers, ist sehr schön. auch was da an bass dazukommt, ist schön produziert. dann bleibt es aber irgendwie kleben in seinen braven zwei akkorden und seinem klavier-ansatz, der bei jarrett in den 70ern stehen geblieben scheint. das ende: naja, peinlich. könnte mir vorstellen, dass das eine 1-mann-produktion ist. aber allzuviel vertrauen in dessen gestaltungskraft habe ich nicht, trotz schöner details.

#5
das kenne ich, weiß aber nicht woher. kommt natürlich klar aus der elektronischen ecke und bedient sich eher beim jazz in seinen sehr bewusst gesetzten akzenten. schön, auch komplex ist da alles frequenzmäßig und rhythmisch verteilt, obwohl es furchtbar simpel klingt. ärgerlich finde ich die vocal-samples, die so gregorianische kitschmystik aufbauen, schade.

#6
nicht mein ding. so weichspüler-triphop, mit etwas sphärenakkorden, pseudo-dub-basslinie, pseudobrasilianischer perkussion, sehr loungig und nichts davon so richtig. obwohl auch hier ein sehr mit seinem instrument vertrauter pianist dahinter zu stecken scheint. entweder altmodisch oder tatsächlich aus den 90ern. so ähnliche sachen macht man heute doch eher komplett akustisch als das noch so zusammenzumischen, dass alles naht- und kantenlos ineinander übergeht.

#7
hier machen jazzer funk, das klingt nach paul scofield und ist sowas von hart zu ertragen für mich… eine yuppie-delicatesse, muckertum, vordergründig tricky, aber so schulterklopfend sicher im schiefen rhythmus. das war große mode, als ich anfing, jazz zu hören (anfang der 90er), als delikate jazzrock-weiterentwicklung, das nur kurz zwischen after-work-besuch beim befreundeten hifihändler und toskana-rotwein auf dem heimischen schwarzen zweieinhalbsitzer leicht zu leben anfängt. ist das scofield mit lovano? das wäre dann der von mir mit entsetzen wahrgenommene höhepunkt dieser greuel. falls ich irgendwie aus dieser nummer noch rauskommen will: perfekt gespielt natürlich, alles ganz sauber. technisch (auf allen ebenen). gute musiker (in anderen momenten). sorry.

#8
damit kann ich schon eher leben. der ließ ja schon immer den armen scofield ganz alt aussehen (auch in den schönen gemeinsamen platten mit marc johnson’s bass desires). eine sehr puristische aufnahme für ihn (in den country-sachen ist ja das puristische immer nur behauptung). wollte ganz originell am anfrang schreiben: das klingt ja wie i heard it through the grapevine, dann ist es das natürlich tatsächlich. schön, wie ernst er das nimmt, es sparsam aufbaut, grooven lässt. großartiger einsatz von elektronik, nicht erst, wenn er seine soundwall auftürmt am ende. sehe gerade, dass das gar nicht so alt ist – habe schon lange aufgehört, seine sachen zu verfolgen, war aber vielleicht zu früh.

#9
das müsste ich eigentlich kennen, zweifellos brasilianisch. flöte unisono mit klavier haben sie irgendwie erfunden, warum auch immer – könnte also pascoal sein, der bassist klingt aber nach dave holland… schön, wie das in der luft hängt, mit den vielen fliehenden harmonien und melodien… sängerin ist jetzt wahrscheinlich nicht so bekannt. toll, diese passage kurz vor dem piano-solo. das wiederum könnte corea sein, dann wären das flora purim und joe farrell? mag gerade nicht suchen, weil ich das einfach schön finde, in gänze, in allen details… so pointiert unaufdringlich, leicht, schnell, komplex, kolibrihaft… dazu könnte ich ganz viel schreiben, vielleicht später. muss ich haben.

#10
captain future, brasilianisch-in-ironisch. ist das das gleiche stück wie in #9? mit lauter zusammengebastelten retro-synth-sounds. habe nicht immer lust auf diese lustigen zitatpopper – jimi tenor und soweiter. bleibt etwas flach, oder? mag aber, wie die drums aufgenommen sind. wenn friedrich das noch nicht erkannt hat, ist es jedenfalls nicht stereolab. muss ich öfter hören.

#11
das würde ich aus eigenen stücken nie hören, finde es aber nicht schlecht. hier liegt das zitathafte viel tiefer und ist so derartig vermischt, dass man die quellen nicht mehr heraushört. geht eher in die e.s.t.-richtung oder noch weiter, ronin oder so, dass es schon wieder für ECM interessant wird. das meinte ich bei #6, dass man heute so triphop-effekte wieder rein akustisch herstellt. trotzdem bleibt es für mich ein interessanter effekt, könnte kulturtipp auf arte oder im zeit-magazin sein, hat aber keinerlei brenzligkeit oder dringlichkeit. ist das dieses projekt, das house-stücke in jazzcoverversionen umbiegt? schönes stück für einen bft jedenfalls.

#12
viel toller. hier sind soundfetischisten am werk, die genau wissen, was sie auf akustischer eben brauchen, um es rein elektronisch in etwas aufregendes umzuformen – wo auch so gitarren-greifgeräusche wichtiger werden als darauf produzierte töne, wo man bei klavieren den anschlag des hammers herausarbeitet usw. was oberflächlich als wabernde soundwolke erscheint, sind viele komplex organisierte loops und rhythmisch in mehrere richtungen arbeitende linien. sehr schön, auch wenn das nicht viel will. habe keine idee, wer genau das ist – da gibt es sehr viele, die so arbeiten (weil individualität auch nicht das ziel ist).

#13
ok, das kenne ich auswendig. ein wahnsinnsalbum, eine wahnsinnsband, auch wenn sie irgendwann eingegangen sind. die verstehen total, was jazz ist, machen aber was ganz anderes daraus. und die idee, DIESE sängerin zu reaktivieren, sollte ihnen auf alle zeiten und in alle ewigkeiten einen platz im musikerhimmel verschaffen. und was sie wiederum daraus macht, ist pure aura. meine these ist ja immer: djs und elektronikmusiker kennen jazz viel besser als jazzer eletro & hiphop. das hier ist musik von leuten, die genug rare jazzplattenschätze geborgen und über mögliche musikalische gipfeltreffen nachgedacht haben, um zu den punkt zu kommen, dass man das, was man da hören möchte, nicht finden, sondern nur selbst produzieren kann.

#14
wer das ist, ist klar. aber ich kenne das stück nicht – und finde es unglaublich toll. man hört genau, wie es ihn wegträgt – und darin liegt ja seine ganze philosophie, seine ganze begierde – sich im fluss aufzulösen. auch wenn er selbst dann noch was hinkriegt, wenn das nicht eintritt. hier gibt’s so kurze momente des innehaltens, aber dann verflüssigt sich auch sofort wieder alles – allein in der linken hand. vergleichsweise schnelles aufwachen und sofortiges ende. oder war es der huster? eine riesengroße miniatur.

#15
das ist ein epigone vom herrn in #14. natürlich schön, wie allein das klavier drei simultane rhythmische angebote macht. der rest (bassklarinette? tabla?) ist mir zu tupfig, das schlagzeug zu stumpf. sehr abruptes ende (??).

#16
steeldrums? fortsetzung von #15? ist jedenfalls auch nicht weit weg von den herren aus #13 (fast schon geklaut…). trotzdem nicht ganz mein ding (deswegen?). zwei akkorde sind zwar nu-jazz-typisch (ritual!), aber mir zu wenig. der arme saxophonist weiß ja sehr schnell nicht mehr, was er da noch spielen soll – verständlicherweise. ich könnte aber jeden verstehen, der das hier sehr schön findet. ein bisschen berechnend, so als gesamteindruck…

#17
das kenne ich auch irgendwo her. ECM? jarrett oder ein guter kopist… entweder das genaue vorbild für e.s.t. oder es sind e.s.t…. in diese postmoderne-diskussion mag ich gar nicht einsteigen. ist das also schön ‚an sich‘? schon, oder? trotzdem hätte ich größere hochachtung davor, wenn es tatsächlich aus den 70ern wäre. was wurde dem also in dieser richtung hinzugefügt? muss immer was hinzugefügt werden? ich glaube jedenfalls (bzw. weiß es): es geht subtiler. mehr dazu im nächsten bft.

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