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Sokrates@ Jan:
Für „quirky“ „schräg“ zu schreiben, trifft es ganz gut, meine ich. Vielleicht wird einem auch mal langweilig damit? Vielleicht möchte man sich entwickeln und lieber Songs schreiben? Warum führt das zur Bewertung „brav“? Ich halte nicht viel von diesen Schubladen, weiß aber, dass Musiker sich gern verändern, Vorbilder imitieren – und Publikum haben.
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„Soviet Kitsch“ hat mich dementsprechend unbeeindruckt gelassen (Ich habe die hohen Bewertungen zur Kenntnis genommen, glaube aber, sie sagen mehr über die Vorlieben des Publikums als die tatsächliche Qualität
Gerade vom Songwriting her darf sich „Far“ weit hinter den vier Vorgängerscheiben anstellen. Darauf gibt es einige tolle Momente, aber nie erreicht sie die Brillanz und emotionale Tragweite von Songs (!) wie „Chemo Limo“, „Samson“ oder „Ode to Divorce“.
Ihre Beobachtungsgabe und ihre Fähigkeit alltägliche Gefühle in berührende Geschichten irgendwo zwischen Märchen und Tagebuch zu verpacken, sind ganz großes Songwriting, und die Verspieltheit, mit der sie diese Stücke zum Ausdruck gebracht hat, ist die angemessene, passende Umsetzung der Songs. Dass Regina Spektor nur um des Experimentierens Willen experimentieren würde, halte ich für eine krasse Fehleinschätzung ihres frühen Outputs.
Die Songs auf „11:11“, „Songs“ und „Soviet Kitsch“ werden deutlich nackter zur Schau gestellt als die von „Begin to Hope“ und „Far“. Sie sind näher am Song als die „Grey’s Anatomy“-freundlichen Arrangements von später, und genau darin liegt auch ihr Risiko: Sie sind nackt und seltsam, aber trotzdem schön. Es ist allerdings eine Schönheit, die man sich erst erarbeiten muss, die auf den ersten Blick befremden mag, mit der Inperfektion kokettiert und mit Erwartungen bricht – keine „In-Your-Face“-Schönheit, die man mit den ersten Tönen als solche einordnen kann. Das ist für mich brillantes Songwriting, denn es hat so viel mehr zu bieten als „Schöne Melodie + schöner Text“.
Und darum sehe ich es genau andersrum: Das Frühwerk hat die besseren Songs. Mit dem Sire-Deal sind diese pro Album mehr und mehr in den Hintergrund getreten und ihr nackter, schräger Charme (ja, „schräg“ trifft es ganz gut) wird da, wo er noch vorhanden ist, oftmals vom Pathos verdeckt.
Es gibt kein Spektor-Album, das nicht mindestens gut ist, darum möchte ich diese Ausführungen als Meckern auf ganz hohem Niveau verstanden wissen. Warum ich trotzdem meckere: Weil Regina Spektor aufgrund dieser Entwicklung als „noch eine Frau mit schönen Songs am Klavier“ gesehen wird. Nichts gegen Frauen mit schönen Songs am Klavier, aber: Sie ist mehr als das.
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