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PeterJoshua’hurz‘
Ich habe zu diesem Wort und zu dem natürlich sehr lustigen Versteckte-Kamera-Sketch von Hape Kerkeling eine Theorie: Er ist deshalb so beliebt, weil er eine immens entlastende Wirkung hat für alle, die sich unsicher fühlen mit herausfordernder, ungewohnter, in die eigenen Hörgewohnheiten nicht ohne weiteres integrierbarer Musik – man braucht sich dann nicht mehr mit quälenden „Warum erkenne ich nicht, wo hier die Größe liegt?“-Gedanken abzuplagen, sondern kann einfach „Hurz“ sagen und damit zum Ausdruck bringen: Alles, was ich nicht auf Anhieb verstehe, ist Verarschung, Wichtigtuermusik, Des-Kaisers-neue-Kleider-Mucke und ist es nicht wert, dass ich es zu verstehen versuche. Ein sehr bequemer Ausweg. Aber auch einer, der zu selbstgerechter Borniertheit und reaktionärer Verstocktheit gemäß dem Sprichwort „Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht“ verführen kann.
Ich bin kein Free-Jazz-Experte, dennoch gehöre ich zu denen, die von Matana Roberts‘ Platte fasziniert sind. Und was mich immer wieder verblüfft: Dass die Platte auf ihre sperrigen, verstörenden Passagen reduziert wird. Da ist doch noch so viel anderes! Eingängiges, Blues-Grundiertes, Swingendes, Weiches, Klangmalerei … Und dazu ein wirklich phantastischer Sax-Ton, eine Sax-„Stimme“ von derartiger Autorität und Überzeugungskraft, dass ich ihr auch durch die freien Passagen hindurch einfach zuhören möchte. Ich empfinde die Platte als eine Art Erzählung, mit großem Spannungsbogen, mit freien, wilden, improvisierten, verstörenden, erschütternden Passagen, aber eben auch mit einem starken inneren Zusammenhang. Ich höre diese Platte am liebsten komplett von vorne bis hinten oder gar nicht.
Mick67 hat die Frage aufgeworfen, warum plötzlich so viele Leute diese Platte toll finden, obwohl doch nicht mal annähernd so viele sich mit sowas auskennen und sonst darüber schreiben. Richtige Beobachtung. Was mich betrifft, es liegt an folgendem: Ich habe ein paarmal darüber gelesen (unter anderem in RS und Spex), ich habe von zuverlässigen Gewährsleuten Hinweise bekommen (zum Beispiel im Forum Gipsy Tail Wind), ich habe mir die Platte zugelegt, sie hat mich gepackt. So einfach ist das.
Es gibt da draußen womöglich noch massenhaft Scheiben aus dem Bereich des eher freier angelegten Jazz, die ähnlich gut oder besser sind, von denen ich aber nichts weiß. Insofern hat meine Begeisterung für Matana Roberts tatsächlich etwas Willkürliches. Aber was soll’s? So fängt’s doch immer an, wenn man sich neue musikalische Horizonte zu erschließen beginnt: Jemand sagt, „hör mal das“, man tut’s, entdeckt darin was für sich, macht weiter, vertieft sein Gefallen und sein Urteilsvermögen, bleibt dran … Meine Berührungsängste gegenüber freierer Jazzmusik zum Beispiel, die sowieso schon längst im Schmilzen begriffen sind, fließen immer mehr davon.
Und wenn irgendjemand solche Prozesse des Sichhineinhörens auch in sperrigere Musik bequem mit dem Wort „Hurz“ verhöhnen und abtun möchte, na gut, soll er doch. Letztendlich bestraft er sich damit nur selber, weil er viel verpasst.
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