Re: Kenny Clarke with Francy Boland and the Bands

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Sahib Shihab war mit Jahrgang 1925 schon ein gestandener Musiker, als er – ein Mann der ersten Stunde – 1961 mit Clarke-Boland zu spielen Begann, hatte aber nur wenig unter seinem eigenen Namen aufgenommen. Als dreizehnjähriger hatte er bereits mit der Luther Henderson Band gespielt, während des zweiten Weltkriegs spielte er in Fletcher Hendersons Big Band und lernte Notenlesen. Danach spielte er mit Ray Perry und kam bald schon in Berührung mit der neuen Musik von Charlie Parker und Dizzy Gillespie.
In der Folge spielte Shihab mit Roy Eldridge, Thelonious Monk, Art Blakey, Tadd Dameron, Miles Davis und vielen anderen und machte sich einen Namen in der Jazz-Welt. In den frühen 50ern suchte Gillespie einen Ersatz für seinen Baritonsaxophonisten Bill Graham, Shihab wechselte vom Alt aufs grosse Horn, das fortan zu seinem Hauptinstrument werden sollte (Aufnahmen mit Dizzy kenn ich glaub ich keine… müsste mal genauer nachschauen, aber das waren bei Dizzy genau die trüben Jahre, ca. 1952-54 oder so, als musikalisch wenig, Show- und Blödeltechnisch dafür umso mehr lief).

1954 tourte Shihab mit der Band von Illinois Jacquet und anderen (darunter Sarah Vaughan, Coleman Hawkins, Mary Lou Williams) durch Europa, im Jahr darauf arbeitete er im Howard McGhee und spielte gelegentlich auch mit Big Bands und kurz mit Art Blakey. Ein paar Tage spielte er auch bei Ellington… aber seit er 1946 mit Roy Eldridge gespielt hatte, träumte Shihab von seiner eigenen Band. Zehn Jahre später wurde der Traum wahr und Shihab konnte ein paar Sextett-Aufnahmen für Savoy machen. Ergebnis waren das Album „Jazz Sahib“ (MG 12124) und die Hälfte von „The Jazz We Heard Last Summer“ (MG 12112), das er sich mit einer Gruppe von Herbie Mann teilte. Ein weiteres Stück erschien auf dem Various-Artists-Album „Jazz Is Bursting Out All Over“ (MG 12123) und Shihab nahm auch mit dem Bassisten Mort Herbert auf („Night People“, MG 12073, und „After Hours Jazz“, Epic LN 3339). Unter den Sidemen finden sich so illustre Namen wie Bill Evans, Benny Golson, Hank Jones, Phil Woods, Paul Chambers, Clifford Jordan, John Jenkins, Oscar Pettiford oder Dannie Richmond. Alle diese Aufnahmen hat Fresh Sound auf einem 2CD-Set gesammelt – sie sind äusserst hörenswert (natürlich auch in anderer Form, so man was finden kann… die Savoy-Alben von Shihab, Shihab/Mann und „Jazz Is Bursting…“ gab’s wohl alle auch mal auf Denon-CDs in den 80ern).

Danach wurde es stiller um Shihab. In den späten 50ern spielte Shihab kurz mit Dakota Staton, bevor er 1959 zur neuen Big Band von Quincy Jones stiess und nach Europa ging. In den frühen 60ern siedelte er nach Europa über (wechselte zwischen Dänemark und Schweden hin und her), begann mit Kenny Clarke und Francy Boland zu spielen, nahm auch mit der Danish Radio Jazz Group eigene Musik auf – er war zu einem tollen Komponisten herangewachsen. Am 32. Oktober nahm er für das dänische Debut-Label die tolle Scheibe „Conversations“ auf (erweitert auf einer Black Lion CD zu finden), auch hier speielte er vor allem seien eigenen Kompositionen. Am Altsaxophon hatte er zudem schon im Herbst 1962 an Brew Moores Album „Svinget 14“ mitgewirkt (Black Lion – zuerst als „Brew Moore in Europe“ auf Debut).

Vermutlich am 8. und 9. Mai entstand in Köln das zweite Album einer kleinen Clarke-Boland Gruppe, quasi der Stammbesetzung des Sextetts, das die beiden fortan hin und wieder leiten sollten. Der Star im Mittelpunkt war Sahib Shihab, um ihn gruppierten sich Kenny Clarke (d), Francy Boland (p), Jimmy Woode (b) sowie Joe Harris (bgo). Für dieses Album stiess Ake Persson an der Posaune dazu, üblicherweise wurde das Sextett durch Sadi (an Perkussionsinstrumenten und Vibes) ergänzt.

Die fünf Stücke stammen allesamt aus der Feder von Shihab. „Lillemor“ (gemeinsam mit Jimmy Woode komponiert) öffnet als beschwingter Walzer mit Shihab an der Flöte, dann bremst ein Roll von Clarke das Tempo und Persson übernimmt den Lead im Mittelteil in langsamem 4/4-Tempo, während Shihab ihn umgarnt. Zurück zum Walzer mit Shihabs Flöte und dann spielt Persson das erste Solo. Sein Ton ist berückend schön mit dem Dämpfer, sein Drive bei aller Gelassenheit immens. Boland übernimmt mit einem Solo, das eher die Verweigerung eines Solos ist, und schon steigt Shihab ein, bläst ein wunderbares Solo auf der Flöte, in der zweiten Hälfte auch mit Einsatz der Stimme. Am Ende folgt wieder das Thema, inklusive langsamer Teil – man achte dort auf Jimmy Woode!
„Please Don’t Leave Me“ beginnt mit Händeklatschen, Drums und Perkussion, langsam etabliert sich ein Latin-Beat, über den Shihab am Alt und Persson unisono das Thema präsentieren. Sehr schön, wie ihre beiden Stimmen zu einer verschmelzen! Die Bridge gehört wieder Persson, der dann auch das erste Solo spielt. Seine Posaune ist jetzt offen, sein Ton hat mehr Biss, ist aber immer noch unglaublich schön. Es folgt Boland mit einem langen Solo und der Groove hier liegt ihm perfekt, er schiebt seine Phrasen herum, phrasiert zwar recht weich, aber sein Spiel von einem grossen Drang. Dann folgt Shihab am Alt, mit einem geschmeidigen, leicht pelzigen Ton, irgendwo zwischen Gigi Gryce und Paul Desmond, steigt mit einer einprägsamen Phrase ein, bei der er ein wenig bleibt. Langsam steigert sich sein Solo, Boland setzt längere Zeit aus, die Phrasen von Shihab verzahnen sich mit den Rhythmen. Zum Ausklang riffen Shihab und Persson ein wenig, das Stück endet nach nicht ganz zehn Minuten – es ist wohl das Highlight des Albums!

Die zweite Seite enthält drei Stücke. Zum Auftakt ist mit „Waltz for Seth“ wieder das 3/4-Tempo am Zug, aber dieses Mal etwas härter gespielt. Nach
dem Thema bricht die Musik auf und Jimmy Woode spielt ein schönes Solo, begleitet anfangs nur von Clarke und Harris, dann gesellt sich auch Boland dazu. Persson folgt, dann Boland und zum Ende Shihab am Bariton.
Dann folgt die lange Nummer „Campi’s Idea“. Was als Ballade beginnt, wechselt zuerst in einen mittelschnellen 4/4, dann unter Perssons Posaune in einen etwas trägen 3/4, in dem Boland in einer Art Akkorde legt, die etwas an Dave Brubeck erinnert. Persson spielt darüber ein weiteres tolles Solo, direkt, unkompliziert und mit einigen verblüffenden Effekten. Dann folgt Shihab am Barisax und übernimmt mit ähnlich vokalem, direktem Spiel, stottert seinen Einstieg nahtlos aus Perssons letzen Tönen heraus. Zum Schluss röhrt Persson einen pedal point, während Shihab das Stück ausklingen lässt.
Abschliessend hören wir das schnelle „Herr Fixit“, in 4/4, abwechselnd mit Latin-Beat präsentiert. Clarke trommelt zickig, während Shihab an der Flöte das erste Solo bläst, sehr melodiös, mit reinem, singenden Ton, der langsam in überblasene Töne und ein paar Effekte übergeht. Harris trommelt dazwischen immer wieder den Latin-Beat rein, aber Clarke bleibt bei straightem 4/4. Die Übergabe an Persson scheint abgesprochen, so nahtlos geht das hier vonstatten. Dieser spielt ein entspanntes kurzes Solo, dann folgt Woode – Clarke dämpft zwar sein Spiel ein wenig, aber Harris und Boland begleiten ihn ebenso. Dann folgt das Thema, Shihab an der Flöte, ganz leise sekundiert von Persson.

Das Album ist bei Rearward auf LP und CD greifbar, die drei Stücke von Seite 2 sind auch auf der Rearward CD Sahib Shihab and All Those Cats zu finden (RW102 CD), die zudem das Stück „Jay Jay“ enthält, das ursprünglich auf dem Vogue-Doppelalbum „Companionship“ erschienen ist (zu dem komme ich später, es ist bei Rearward später ebenfalls neu aufgelegt worden).
Auf diesem einen kurzen Stück stösst Fats Sadi am Vibraphon zur Band. Die Nummer wird im Wechsel von Clarke und der Band präsentiert, die Bridge gehört ganz Shihab, der am Barisax fast so scharf klingt wie Pepper Adams. Im Solo wird aber schnell klar, dass das Shihab ist. Dann folgt Sadi am Vibraphon, ebenfalls toll! Und zum Abschluss Clarke, wieder im Wechsel mit dem Riff der ganzen Band. Schade, dass die Nummer so kurz geraten ist!

Ein weiteres Stück von diesen Sessions, ein kürzerer Take von „Lillemor“ (es wird übrigens manchmal auch „Lilemor“ geschrieben) ist auf der CD Calypso Blues (RW101 CD) erschienen. Harris‘ Bongo-Rhythmen sind hier etwas hyperig… und Jimmy Woode singt (daher wohl sein Co-Composer-Credit). Das gefällt einigermassen, ist aber nicht viel mehr als eine kleine Kuriosität, allerdings mit einem weiteren schönen Flötensolo von Shihab.

Zudem ist auf der Rückseite der Argo und Chess (CH-9182) Ausgaben das Datum als 1963 angegeben, was ziemlich sicher falsch ist – Rearward gibt für dieses Material konsistent den 8. und 9. Mai 1964 an (ausser auf der jüngsten CD-Ausgabe, RW130 CD, da steht anscheinen 1963 als Jahr) und Gigi Campi war dabei ja involviert, sollte also korrekt sein!

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