Re: Sonny Stitt

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In der Chronologie von Stitt hab ich noch ein paar Sachen ausgelassen. Im Juni 1960 fand in Los Angeles eine weitere Verve-Session statt, die ich leider bisher nicht kenne und die (wie eine Reihe Sessions anderer Verve-Musiker) in den Wirren um den Verkauf des Labels an MGM vergessen ging und später unter dem Titel „Previously Unreleased Recordings“ (V6-8837) erschien. Mit Lou Levy und Stan Levey waren zwei alte Bekannte dabei, am Bass war Paul Chambers.

Chambers gibt das Stichwort, denn das Kapitel mit Miles Davis folgte. Nachdem im März und April 1960 noch mit Coltrane am Tenor auf Europa-Tour war, fand im September und Oktober die nächste Tour statt und Sonny Stitt fand sich in der Band. Miles‘ Favorit für die Coltrane-Nachfolge wäre Jimmy Heath gewesen, der schon im Juli 1959 kurz an Coltranes Stelle stand. Heath war aber auf Bewährung und konnte daher nicht reisen (ich nehme an, der durfte den Staat New York nicht verlassen?) und schied leider aus. Wayne Shorter war zudem Art Blakeys Jazz Messengers verpflichtet (das sollte auch drei Jahre später noch so sein, als Miles wieder eine Band zusammenstellte).
Von der langen Europa-Tour mit 16 Stationen, die vom 24. September bis zum 16. Oktober dauerte, exisiteren erstaunlich wenige Ton-Dokumente. Offizielle Veröffentlichungen liegen vor aus Paris und Stockholm (erstere zuletzt wohl auf zwei 2CD-Sets bei LaserLight, davor auch auf einem RTE/TREMA 4CD-Set gemeinsam mit dem März-Konzert mit Coltrane, letztere auf Dragon, ebenfalls auf einem 4CD-Set mit dem Coltrane-Konzert vom März). Zudem existiert ein Bootleg aus der Free Trade Hall in Manchester. Diese Aufnahme wurde zuletzt wohl von Lone Hill veröffentlicht.

Davis‘ Band befand sich im Wandel. Das Trio Wynton Kelly, Paul Chambers und Jimmy Cobb war langsam richtig gut eingespielt und wurde immer mehr zu tight swingenden, hippen Band, die im kommenden Jahr (mit Hank Mobley am Tenorsaxophon) zu Bestform auflaufen würde, bevor sie sich als Wynton Kelly Trio selbständig machten – Miles hatte seine Band aufgelöst und sollte erst 1963 wieder eine working band zusammenstellen. Stitt kam also in eine Band, die im Umbruch von einer cutting edge Gruppe in eine exquisite Nachtclub-Band befand. Sein mehr denn kompetentes Saxophonspiel fügte sich natürlich problemlos ein, er war aber nicht in der Lage, Miles einen Gegenpol zu bieten, wie Coltrane das tat, oder überhaupt künstlerisch Relevantes in die Gruppe einzubringen. Miles selber übernahm in der Folge immer stärker die Rolle des Spielmachers, seine Soli wurden länger, wildere und rauhe Passagen wechselten sich mit seinen bekannten lyrischen, sparsamen Phrasen. Auch Kelly blühte als Solist zunehmend auf und die zentrale musikalische Achse innerhalb des Quintetts verlief nicht mehr zwischen den Bläsern, sondern zwischen Davis und Kelly. Am Ende war es daher gar nicht weiter schlimm, dass mit Stitt kein Impulsgeber sondern bloss ein sehr kompetenter (und als Saxophonist grossartiger) Sidemen in die Band kam. Miles hatte zudem seine Rolle geändert: er war nicht mehr der scheinbar arrogante Wichtigtuer, der mit dem Rücken zum Publikum spielte und nach seinen eigenen kurz gehaltenen Soli hinter der Bühne verschwand, um erst am Ende der Stücke wieder aufzutauchen, nein, er spielte länger, wandte sich dem Publikum zu und lachte manchmal sogar (so wurde berichtet im französischen Jazz Magazine, Nr. 64, November 1960, unter der Rubrik „Jazz Informations“ – der Artikel ist im Booklet der RTE/TREMA 4CD-Ausgabe der Pariser Konzerte abgedruckt).

Diese Beobachtungen lassen sich im Rahmen der beiden erwähnten 4CD-Sets sehr schön nachvollziehen, aber die Musik der Konzerte mit Stitt ist auch für sich genommen sehr schön. Der erste Mitschnitt ist jener aus Manchester vom 27. September. Von beiden Konzerten des Abends ist jeweils ein Teil vom Beginn erhalten. Im ersten Konzert spielt die Band „Four“ und „All of You“ in langen Versionen, Stitt trägt schöne Altsoli bei, aber die Highlights kommen von Miles und Kelly. Das dritte Stück, „Walkin'“, ist leider auch schon das letzte des ersten Konzertes und bricht nach einem tollen Solo von Miles sowie intensiven fours mit Jimmy Cobb ab, als Stitt zu seinem Tenorsolo ansetzt.
Vom zweiten Konzert ist mehr erhalten: „Four“ (am Anfang fehlt ein Stück), eine fast viertelstündige Version des „All Blues“, ein langes „All You Needn’t“ und ein über siebzehnminütiges „Autumn Leaves“. Dann folgt ein langes „So What“, ein kurzes Stitt-Feature über „Stardust“ und schliesslich das kurze „The Theme“. Stitt wirkt manchmal etwas verloren, die Rhythmusgruppe swingt hart und ist in einem etwas anderen Groove daheim als den Grooves, die Stitt bevorzugte. Dennoch gibt es auch Momente, in denen Stitt hervorragend passt, etwa den „All Blues“. Stitt war immerhin – siehe oben – mal neben Adderley als einer der hoffnungslosen Bird-Klone gehandelt worden und Adderley war noch einige Monate zuvor mit seinem fiebrig-emotionalen und Blues-getränkten Spiel neben Miles und Coltrane eine Bereicherung der Band. Miles und Kelly glänzen durchweg mit tollen Soli, Chambers und Cobb halten den Beat lebendig und beweglich, Cobbs fills sind streckenweise sehr intensiv, Chambers trägt wie üblich auch ein paar tolle Soli bei.
Das Highlight von Manchester ist vielleicht das lange „Autumn Leaves“ mit tollen Soli von Miles und Stitt, aber Miles spielt Stück für Stück eindrückliche, agile und vielschichtige Soli.

Die Aufnahmen aus Paris sind was Coltrane betrifft das wohl faszinierendste Dokument dieser Live-Aufnahmen (das musikalisch beste war vielleicht das Konzert in Scheveningen?) – das Publikum war offensichtlich auch 1960 noch nicht bereit für diese Musik, ich habe hier ein bisschen darüber berichtet.
Im Konzert mit Stitt, das am 11. Oktober stattfand, legte Miles das oben geschilderte, die Pariser sehr überraschende Verhalten an den Tag – die Überschrift des erwähnten Artikels im Jazz Magazine lautete: „Pourquoi si gentil Miles ?“. Warum denn so nett? Musikalisch gesehen war Miles eigentlich viel weniger nett als noch im Frühling, sein Spiel war härter geworden, vielschichtiger, schwieriger, weniger glatt, weniger „schön“. Aber er war mir seiner Zeit viel grosszügiger (die beiden Konzerte am 21. März dauerten 45 bzw. 41 Minuten, im Oktober spielte die Gruppe zweimal fast eine Stunde) und sein Verhalten gegenüber dem Publikum war eben freundlicher. Die Qualität der Aufnahme ist gut, die Rhythmusgruppe ist etwas tief im Mix und manches ist ein wenig übersteuert, aber Miles kommt gleich im öffnenden „Walkin'“ druchvoll rüber, sein Solo bildet einen grossartigen Auftakt der zwei Stunden Musik, voller toller Ideen und mit viel Raum für die Rhythmusgruppe (erst Kelly, der später aussetzt, wenn Cobb zum Dialogpartner von Miles wird). Stitt folgt am Tenorsax (das er im ersten Konzert nur in „Walkin'“ und seinem unbekannten Feature spielt) und zeigt sich der Aufgabe mehr als gewachsen. Ich weiss nicht liegt’s an der Qualität der Aufnahme oder an meiner Einbildung, aber mir scheint, Stitt sei hier sehr viel besser integriert als noch einige Tage davor in Manchester. Möglicherweise hatte er auch einfach bloss einen fantastischen Abend, denn seine Soli sind durchgängig überragend, sein Swing mitreissend, sein Ton wunderschön, seine Linien präzise und perfekt phrasiert wie immer. Kelly folgt mit einem sehr linearen Solo, die linke Hand akzentuiert nur wenig und leise, die rechte spielt eine horn-like Linie, die sich scheinbar endlos fortspinnt… ein Auftakt, der grosses erhoffen lässt, und in der Tat geht es schon mit „Autumn Leaves“ auf demselben hohen Niveau weiter. Miles spielt mit harmon mute, die Band swingt im two beat Feeling, Spannung liegt in der Luft. Das Stück war übrigens in dieser Tour erstmals in Miles‘ Repertoire. Zum ersten Mal gespielt hatte er es am 9. März 1958 im Studio mit Cannonball Adderley für dessen Blue Note-Klassiker „Somethin‘ Else“, die Aufnahme aus Manchester ist der zweite Beleg auf Losins Website, und mindestens bis 1966 blieb es im Repertoire von Miles‘ Quintett. Stitt folgt am Altsax, dann Kelly mit einem rollenden, frischen Piano-Solo. Cobb passt seine Begleitung fortwährend dem jeweiligen Solisten an, überhaupt ist die Rhythmusgruppe unglaublich flexibel und sorgt dafür, dass das Geschehen stets spannend bleibt. Chambers folgt mit einem schönen Solo, bevor Miles das Stück zu Ende bringt – unter grossem Jubel des Publikums.
Mit „Four“ geht das Konzert belebt weiter, Miles ist schon zum Auftakt in Zitierlaune. Cobb begleitet intensiv, seine bombs und stellensweise intensiven Snare-Fills kontrastieren effektvoll mit dem fliessenden Puls der Becken. Stitt folgt am Altsax und ist hörbar beflügelt, wechselt ebenmässig swingende Achtel-Linien mit stärker rhythmisierten und double time Passagen, bleibt wie sehr oft nahe am Thema dran – obwohl diese Linie (sie stammt übrigens wie „Tune Up“ von Cleanhead Vinson) nicht besonders viel hergibt. Es folgt Stitts Feature des Abends – dieses Mal keine Ballade sondern ein mitreissend swingender Blues, in dem sein tief in Lester Young verankertes Tenorsax aufs schönste zur Geltung kommt und er alle Register seines Könnens zieht. Es war wohl diese fünfminütige Performance, die mich erstmals vor wohl 16 oder 17 Jahren ganz für Sonny Stitt eingenommen hatte (ich denke, dieses Konzert war überhaupt das erste, was ich von ihm gehört habe – eventuell gab’s davor mal ein Bootleg der Giants of Jazz, aber das hat mir damals so wenig gefallen, dass ich mich nicht mal mehr klar erinnern kann).
Dass Stitt auf „‚Round Midnight“ Altsax spielt war wohl eine ziemich schlaue Entscheidung. Dabei bleibt er dann auch bis zum Ende des Sets: Es folgt eine lange Version von „No Blues“ (aka „Pfrancing“), das längste Stück der beiden Konzerte, bevor mit „The Theme“ das erste Konzert endet.
Das zweite Konzert beginnt wieder mit „Walkin'“, der Parade-Nummer der Band. Miles öffnet, Cobb treibt wie ein irrer, Stitt klingt am Tenor streckenweise fast so kernig wie Rollins, kehrt aber immer wieder zu seinen Pres-Wurzeln zurück. Im abschliessenden Thema spielt Cobb furios. Weiter geht’s mit „If I Were a Bell“, Miles konzentriert, voller Ideen, dann folgt Stitt und ist ihm ebenbürtig an Einfallsreichtum, lässt sich von Cobb treiben. So macht das richtig Spass! Kelly gelingt – wie eigentlich immer, und auch dank der tatkräftigen Hilfe von Chambers und Cobb – das Kunststück, dass die Spannung im Piano-Solo kaum abflacht. Mit der rechten Hand schnitzt er marktante Linien, die aber von einer verspielten Leichtigkeit sind, und obwohl sie streckenweise fast wie in Stein gemeisselt scheinen, nie übermässig hart angeschlagen werden. Die Linke begleitet sparsam und leise, während Cobb sein Spiel in der Dynamik, aber nicht in der Intensität zurücknimmt.
„Fran Dance“ ist ein äusserst charmantes Stück, Stitt wecheselt erstmals im zweiten Konzert aufs Altsax (Losin liegt da komplett falsch, gemäss ihm spielt Stitt nur am Ende des ersten Konzerts Altsax). Sein Ton ist überreif und fett, die Idee, mit der er über einen pedal point ins Ende seines Solos geht ist grossartig!
Es folgt „Two Bass Hit“, eine hektisch-boppige Nummer, an die eine erste Version von „The Theme“ angehängt wird (mit kurzem Tenorsolo von Stitt) – als hätte sich Miles einen Moment lang überlegt, das Konzert bereit zu beenden? Es geht dann aber nahtlos weiter mit „All of You“, von Miles mit Dämpfer über einen Two-Beat von Chambers und 4/4-Swing von Cobb mit Besen präsentiert. Stitt glänzt mit einem aufgeräumten Altsolo, das recht gemächlich anfängt, aber sich mit der Zeit in rasche double time Läufe steigert, die immer dichter gestreut werden zwischen die Passagen, in denen Stitt sich ganz eng am Thema bewegt. Auch in „So What“ spielt Stitt ein tolles Solo, scheint mit der modalen Struktur recht gut zurecht zu kommen und wird von der Rhythmusgruppe sanft gebettet. Kelly folgt, öffnet mit reduzierten Phrasen, schiebt sie in der Bridge, geht dann, statt in den letzten acht Takten zurückzuschieben, in ein funky fliessendes Solo über, das von Cobbs geliebten rim shots untermalt wird. Am Ende folgt nochmal „The Theme“, mit einem tollen kurzen Solo von Stitt am Tenor, und damit endet dieses grossartige Konzert.

Die Konzerte in Stockholm fielen noch länger aus – beide Konzerte dauerten sie etwa eineinhalb Stunden. Das erste beginnt erneut „Walkin'“. Miles ist sofort mitten in der Musik wechselt lyrische, lineare Phrasen mit kurzen Ausrufern, Schreien, schnellen Passagen und Läufen. Cobb begleitet sofort dicht und scheint jedes Statement seines Leaders zu schattieren und zu kommentieren. Stitt spielt Tenorsax und ist ebenfalls sofort mitten drin in der Musik. Es geht ähnlich weiter, das Konzert bewegt sich ebenfalls auf hohem Niveau, gefällt mir aber nicht ganz so gut wie jenes aus Paris (auch wenn insgesamt fast eine Stunde mehr Musik zu hören ist). Das mag daran liegen, dass ich Paris zuerst kennengelernt habe, aber es mag eben auch sein, dass die Band in Paris angespannter war, auf höherem Niveau gespielt hat. Die Audio-Qualität ist einigermassen vergleichbar, vielleicht noch eine Spur besser als in Paris, etwas klarer, was das Piano und die Becken Cobbs betrifft.
Im folgenden „Autumn Leaves“ ist der Groove wiedder perfekt, absolut in the pocket – Miles ist allerdings leider eine Zeit lang off mic. Stitt folgt am Altsax, sein Solo ist sehr eng am Thema (es fällt übrigens auf, dass er kaum je in Themen-Präsentationen zu hören ist, sondern nur als Solist eingesetzt wird). Nach einem tollen „So What“ folgt Miles‘ Parade-Ballade „‚Round Midnight“, wieder mit Stitt am Altsax. Mit „The Theme“ endet dann das erste Set des ersten Konzerts.
Das zweite Set beginnt dann entspannt mit dem langen Kelly Trio-Feature „June Night“, Stitts Feature über „Stardust“ und dann dem Quintett in „On Green Dolphin Street“ mit Stitt am Tenor und in guter Laune. Es folgt „All Blues“ und mit „The Theme“ endet das erste Konzert. Dieses zweite Set ist zwar schön und mit dem Trio-Stück und dem schönen Stitt-Feature auch abwechslungsreich, aber auch ohne richtige Höhepunkte.
Das erste Set des zweiten Konzerts beginnt entspannt mit „All of You“, Miles mit Dämpfer, die Rhythmusgruppe im 2/2-Feeling, dann unter Stitts flüssigem Altsax der Wechseln in einen hart-swingenden 4/4-Takt. Nach dem schönen Opener folgt „Walkin'“, die Parade-Blues-Nummer der Tournee. Miles ist einmal mehr grossartig, die fours mit Cobb geht er mit Übermut an und Cobb reagiert entsprechend. Stitt und Kelly folgen mit tollen Soli. Weiter geht’s entspannt mit „Autumn Leaves“, Miles mit Dämpfer, Stitt folgt am Alt, sein Ton voll, weich und warm. Mit „The Theme“ endet dann das erste Set des zweiten Konzerts.
Das zweite Set des zweiten Konzerts, das vierte und letzte Set des Abends, beginnt gleich mit zwei Trio-Nummern: „Softly, as in a Morning Sunrise“ und „Makin‘ Whopee“. Es folgt Stitts Feature „Lover Man“ und dann das Quintett mit „If I Were a Bell“ und „No Blues“, bevor die Aufnahmen mit dem Set-Closer „The Theme“ enden.

Nach dem Wiederhören all dieser Aufnahmen bin ich mir einmal mehr ziemlich sicher, dass die Band in Paris ein My besser drauf war… aber es lohnen sich beide 4CD-Sets. Jenes von Stockholm enthält übrigens auch ein kurzes Coltrane-Interview.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba