Re: Sonny Stitt

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Das Jahr 1959 beendete Stitt mit den oben erwähnten Westküsten-Sessions für Verve, bei denen einiges an toller Musik produziert wurde. Im Januar 1960 trat er mit dem Trio von Barry Harris in Detroit auf und im Juni wurde er Mitglied des Quintetts von Miles Davis. Die Gruppe spielte im Juni im Hollywood Bowl in Los Angeles und dem Blackhawk in San Francisco, im Juli vermutlich in der Sutherland Lounge in Chicago und vom 2.-10. August im Village Vanguard in New York. Am 21. August traten sie am Randall’s Islandd Jazz Festival auf und George Hoeffer schrieb im Down Beat, dass Stitt Miles die Show gestohlen habe.

Mitten in all diesen Aktivitäten fand Stitt im Sommer 1960 zweimal Zeit, für Roost ein Album aufzunehmen. Das erste heisst Stittsville (LP 2244) und präsentiert Stitt zu etwa gleichen Teilen am Alt- und am Tenorsax. Wieder waren Jimmy Jones, ein unbekannter Bassist und Roy Haynes mit am Start.
Die Session beginnt mit „Angel Eyes“, einem wunderbaren Stück, dem Stitt den Respekt angedeihen lässt, es nicht allzu sehr auszuschmücken. Haynes gibt viele Impulse schon im Thema, der Medium-Groove macht grossen Spass, Stitt growlt beinahe zum Auftakt seines Solos, und streut auch später ein paar überraschende, nahezu schmutzige Töne ein. Stitt spielt kernig und voller Kraft, das Tempo ist perfekt für das Stück, die Kadenz am Ende gelungen – Stitt is on!
„It All Depends on You“ folgt, Stitt übernimmt das bouncende two-beat Feeling, mit dem Miles so oft alte Standards präsentierte. Sein Altsax klingt leicht und luftig, Stitt geniesst es hörbar, sein Solo ist verspielt, kontrolliert, voller unglaublicher Läufe. Auch hier growlt er wieder ein wenig, streut ein wenig vom Thema ein – eine kurze tour de force von nur 2:47, aber die haben’s wirklich in sich!
Für „Stormy Thursday“ wechselt er zum Tenorsax, Haynes trommelt einen fetten Backbeat, der Bass ist wieder im two beat Groove, Jones spielt rollende Akkorde. Stitt spielt quasi seine Version von „Night Train“, ob er sich einer verrauchten Bar oder einem Stripschuppen wähnt ist egal – das ist keine grosse Kunst, aber es macht grossen Spass!
„Embraceable You“ ist einer der grossen Gershwin-Klassiker, Stitt spielt ihn referenzvoll am Altsax und bleibt durch die ganze Interpretation hindurch sehr nahe an der Melodie – klassischer Stitt.
Dann kehrt er für die folgenden fünf Stücke zum Tenor zurück. Zuerst ist da der Standard „It Could Happen to You“ im mittelschnellen Tempo mit viel „snap“ von Haynes und solidem Bass. Die Band und Stitt swingen scheinbar mühelos, Haynes treibt Stitt mit seinem Geschnatter an, der streut einige seiner liebsten Klischees ein. Auch das wohl keine grosse Kunst, aber ein grosses Vergnügen bestimmt. Weiter geht’s mit mehr feinstem Gershwin: „But Not for Me“ im mittelschnellem Tempo und mit aggressivem, zupackendem Stitt.
Eubie Blakes wunderschönes „Memories of You“ wird als Ballade präsentiert, Stitt spielt mit einem schönen Sound, zeigt, dass er auch eine ruhige Balladeninterpretation allererster Güte hinkriegt. Das Auf und Ab seiner Linien, wie er aus langen, komplexen Phrasen herausfindet und jedes Mal die perfekte Punktlandung hinkriegt, wie er überhaupt schnelle Linien spielen und dennoch die Balladen-Stimmung perfekt aufrechterhalten kann – das alles ist sehr eindrücklich!
Im mittelschnellen bouncenden Tempo wird „I Cried for You“ präsentiert. Stitt swingt entspannt und gelassen – was für ein Kontrast zum vorangegangenen Stück! Es folgt die letzte Tenor-Nummer, der Blues „Bright as Snow“, der auf einem simplen Riff beruht. Stitt phrasiert präzise und leicht, sein Timing erinnert an Pres, da sind wieder die mit verschiedenen Griffen wiederholten Töne, da ein rasanter Lauf, dort ein paar Growls, hier ein kurzer Shake – und alles so unendlich locker dargeboten. Auch das eine tour de force, die am Ende viel länger als die effektiven 2:44 Minuten scheint.
Den Abschluss dieses schönen Albums macht „Spinning“, ein weiterer Blues, dieses Mal aber am Altsax und mit mehr Biss phrasiert. Stitt scheint hier wieder wenig involviert, aber er klingt eben dennoch verdammt gut!

Die zweite Session während Stitts Zeit mit Miles Davis fand am 8. August 1960 statt – die Band ist dieselbe (der Bassist wieder unbekannt), es wurden genügend Stücke eingespielt für ein ganzes Album und zwei weitere blieben noch für ein nächstes Album übrig und im Mosaic-Set findet sich zudem ein zuvor unveröffentlichter alternate take von „My Blue Heaven“.
Das Album, das aus dieser Session produziert wurde heisst Sonny Side Up (LP 2245) und bewegt sich stilistisch in ählichen Gefilden wie das vorangegangene. Den Auftakt der Session macht „On Green Dolphin Street“, ein Stück das Miles Davis 1958 eingespielt undd lange Jahre im Repertoir hatte. Stitt spielt das Stück in einer anderen Tonart als Miles und scheint nie so ganz reinzufinden, auch wenn der Groove der Band gut ist und sein Ton am Tenor sehr schön zum Stück passt. Für „My Blue Heaven“ wechselt Stitt zum ersten Mal aufs Altsax. Der alternate take ist langsamer, die veröffentlichte Version schneller, fröhlicher – Stitt hat die Melodie stets präsent und greift in die vollen mit Läufen in double time.
„My Mother’s Eyes“ ist wieder eine verhaltenere Nummer, Stitt bläst ein leicht verhangenes Tenor. Er nahm das Stück 1963 auf „Now!“ (Impulse) und auf dem Album „My Mother’s Eyes“ (Pacific Jazz) noch zweimal auf – es ist keins der Stücke, die er mit Autopilot spielte. Man nimmt ihm genau ab, was er hier spielt, es wirkt tief empfunden.
„Sunny Side Up“ ist ein Original von Stitt, das für einmal kein Blues ist und auch nicht auf den rhythm changes beruht – aber zweifellos auf einem anderen alten Standard. Stitt wirkt konzentriert aber auch fröhlich, Jones und Haynes begleiten ihn anspornend.
Für „The More I See You“ wechselt er zum zweiten Mal aufs Altsax. Die Melodie steht im Zentrum, Stitt präsentiert sie sehr süss und gerade hinaus. Dennoch fügt er immer wieder kleine eigene Kommentare und Auschmückungen ein.
„Beware Rocks Comin‘ Down“ ist ein throwaway Blues, nichts spezielles. Dennoch macht Stitts Tenorsolo zum Auftakt Spass. Nach Jones‘ Solo kommt er nochmal mit dem Altsax zurück. Haynes treibt Stitt an, der schliesslich nach zwei Chorussen walking bass nochmal zum Tenor greift. Dieses Stück wurde auf dem Album „Stitt in Orbit“ (LP 2252) veröffentlicht.
Es folgt eine neue Einspielung von „Don’t Take Your Love from Me“, dieses Mal am Tenor. Diese Version ist nich annähernd so atemberaubend wie die vorangegangene. Jones‘ Piano-Solo mit seinem Wechsel von locked hands Akkorden und Linien ist gut, aber eben: anderer Tag, anderer Stitt. Die Magie klappt bei einem Musiker wie ihm, der eigentlich Jahr für Jahr, Tag für Tag, ja fast Solo für Solo, stets dasselbe machte, einfach nicht immer. Und doch: auch ein Stitt auf Autopilot klingt besser als mancher gute Saxophonist an seinen guten Tagen.
„When I Grow Too Old to Dream“ ist ein toller Swinger, Stitt ist in der richtigen Stimmung und seine Version hat Charme. Er vermeidet die meisten Klischees und benutzt das Thema als Ausgangspunkt für ein melodisches Solo. In ähnlicher Laune ist Stitt in Harold Arlens „I’ve Got the World on a String“, sein Spiel bringt einem fast unweigerlich ein Lachen ins Gesicht. Haynes ist besonders aktiv hinter Jones‘ Solo und dessen Spiel macht deutlich, dass er zuhört, was um ihn passiert. Stitt kehrt nochmal zurück, in Lester Young-Stimmung.
Auf dem „Bye Bye Blues“ spielt Haynes Besen, bettet den rauschenden Sound perfekt in seine fills ein. Stitt klingt erneut fröhlich und aufgeräumt. Jones soliert energievoller als üblich – vielleicht dank Haynes‘ druckvoller Begleitung? Ein letzter Blues mit dem Titel „Six-o-Seven Blues“ wurde auch für „Stitt in Orbit“ aufgespart. Nichts daran ist besonders, Stitt zieht Phrase für Phrase aus seinem bag of tricks, aber Haynes scheint das nicht zu stören. Unbekümmert treibt er seinen Boss an und die exchanges am Ende sind sehr toll.

Damit endet die fünfte und letzte Session mit Jimmy Jones am Piano. Im September und Oktober 1960 tourte Stitt mit Miles in Europa, es entstanden Aufnahmen in Stockholm und Paris sowie ein wohlbekanntes Bootleg aus England. Mitte Dezember wurde Stitt dann von Hank Mobley abgelöst.

Im März 1961 nahm Stitt für Verve ein ambitioniertes Album auf, „The Sensual Sound of Sonny Stitt“, mit grossem Orchester und Arrangements von Ralph Burns. Bald darauf traf er sich wieder mit seinem alten Freund Gene Ammons und nach ersten Gigs im McKie’s in Chicago im Mai spielten die beiden regelmässig zusammen und nahmen eine paar Alben auf: „We’ll Be Together Again“ (Prestige, zuerst bei Argo als „Dig Him!“) und „Boss Tenors“ (Verve, beide mit der regulären Rhythmusgruppe John Houston, Buster Williams und George Brown). Das Jahr endete mit einem langen Engagement im McKie’s, während dem auch James Moody und Bennie Green mit den beiden spielten.
Im Juni hatte Stitt zudem das bereits erwähnte Album „At the D.J. Lounge“ eingespielt und für Verve stand er im Januar und August im Studio, ohne dass die Ergebnisse veröffentlicht wurden. Im Februar 1962 folgte „Boss Tenors in Orbit“ (Verve) wieder mit Ammons, dieses Mal aber mit Stitts neuem Begleit-Trio: Don Patterson (org), Paul Weeden (g) und Billy James (d). Mit ihnen sollte er die nächsten zehn Jahre hindurch immer wieder spielen und aufnehmen. Das nächste Roost-Album „Feelin’s“ nahm Stitt zwischen Februar und April 1962 ebenfalls mit diesem Trio auf.

Zwischen Februar und Juni 1962 nahm Stitt auch die Session auf, die mit den beiden übriggebliebenen Stücken der letzten Jimmy Jones-Session das Album In Orbit (LP 2252) ergeben sollte. An seiner Seite waren Hank Jones, Roy Haynes und möglicherweise Tommy Potter am Bass. Vier Stücke landeten auf dem Album, ein fünftes wurde im Mosaic-Set erstmals veröffentlicht. Die Aufnahmen haben ein altmodisches Jam Session-Feeling und beginnen mit dem Blues „No Cal“ mit einem äusserst simplen Thema. Stitts Solo ist zum Glück sehr viel ausgeklügelter als das Thema, sein Altsax hat diesen cry, den es in Blues-Nummern oft besass und nach einem lockeren Auftakt bläst er ein tolles Solo. Jones folgt und der Kontrast zu seinem Namensvetter auf den vorangegangenen Sessions ist gross. Sein Ton ist voller, sein Anschlag harter – und doch ist sein Spiel stets delikat und geschmackvoll.
Mit „Corn Flakes“ folgt noch ein spärlicher Blues, dieses Mal am Tenor. Stitt und Jones spielen das Thema gemeinsam, Stitt vermischt dann hingeschmierte Phrasen, Shakes und Blues-Klischees mit blitzschnellen Einwürfen und gehaltenen Noten. Das folgende „Eye Ball“ beruht auf „Jeepers Creepers“ und bounct nett vor sich hin. Stitt spielt Altsax und mischt die lockere Spielhaltung des Swing mit Bop-Elementen.
Mit „Saginaw“ folgt ein weiterer Blues am Altsax, dieses Mal aber einer der tollen langsamen und Stitt spielt ein Solo voller langer Linien, vokaler Einwürfe und von grosser Intensität.
Das neu gefundene Stück im Mosaic-Set heisst „Fine and Frisky“ und ist eine rhythm changes Variante mit der Bridge von „Jeepers Creepers“. Stitts Solo am Tenor ist ziemlich toll, Haynes gibt guten Kommentar und auch Jones klingt lebending und in Form.

Damit endet die klassische Roost-Zeit von Stitt. Es folgten neben dem erwähnten Orgel-Album, das ungefähr zeitgleich 1962 entstand noch ein Latin-Album von Ende 1963 und ein letztes im Quartett mit Harold Mabern im Frühling 1965. Stitt hatte sich jedoch schon längst wieder in alle Richtungen ausgebreitet und war Ende 1962 schon mitten auf seiner Reise in den Orgeljazz, mit dem er sich die folgenden zehn Jahre ausgiebig befassen sollte… doch hiervon später mehr.

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