Re: Sonny Stitt

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Musica Jazz, das italienische Magazin, hat 1993 in Zusammenarbeit mit Philology eine CD namens Loose Walk herausgegeben. Auf ihr sind ein paar Stücke von diversen Bootlegs zu hören, so Stitt und Ammons mit ihrer Band im Birldland am 10. März 1951 (Blues Up and Down, Ain’t Misbehavin‘, After You’ve Gone). Die Live-Aufnahme von „Blues Up and Down“ dauert sieben Minuten und es ist sehr toll, die beiden fiesen Tenöre so ausgiebig live zu hören!

Dann folgen „My Melancholy Baby“ und „I’m in the Mood for Love“ von den Hi-Hat Sessions (Boston, 11. Februar 1954). Diese Sessions sind auf zwei LPs mit dem Titel Super Stitt! erschienen (Phoenix Jazz), der Grossteil davon war dann auf der ersten von zwei CDs namens Jazz at the Hi-Hat (Roulette) zu hören, ein paar Stücke sowie eine ganze Menge zusätzlicher Tracks, die zuvor – soweit ich weiss – nicht veröffentlicht worden waren, erschienen auf Vol. 2. Die erste CD ist schon seit einer Ewigkeit vergriffen und mir in Anbetracht der grossen Zahl von Stitt-Alben zu teuer, die zweite gab’s noch bis vor einigen Jahren, ich habe sie aber als Teil eines (nicht zu empfehlenen) Membran 2CD-Sets (Longbox aus dem „Modern Jazz Archive“, es heisst bloss „Sonny Stitt“ und enthält zudem eine Auswahl der Prestige-Sessions).

Die Rhythmusgruppe im Hi-Hat war Dean Earl (p), Bernie Griggs (b) und Marquis Foster (d). Besonders Griggs taucht immer mal wieder auf alten Aufnahmen aus Boston (mit Dick Twardzik, Allen Eager, Serge Chaloff und anderen Bostonians, aber auch mit Charlie Parker auf Durchreise).
Die Session ist ein perfektes Beispiel für Stitts endloses Reservoir an Ideen, seine Geschichte spinnt sich fort und fort, er scheint nur selten mal den Faden verlieren, fast jede mit einem Klischee eröffnette Phrase bringt er auf unerwartete Weise zu Ende. Er ist hier am Alt, Tenor und Barisax zu hören, die Aufnahmequalität ist passabel, die Rhythmusgruppe ebenfalls… bestimmt keine essentielle Aufnahme, aber für Stitt-Fans doch ein schönes Dokument aus der etwas weniger dicht dokumentierten Zeit in der ersten Hälfte der 50er Jahre, als Stitt – nach der Auflösung der Band mit Ammons 1952 – als single durch die Lande zog und überall mit pick-up Bands auftrat.
Das Repertoire besteht aus Blues, Balladen, Standards und als crowd pleaser versucht Stitt sich auch an „Flyin‘ Home“; sein Solo greift viele Passagen von Jacquets auf, aber das ganze gerät ziemlich steif und die Rhythmusgruppe hilft Stitt kaum, richtige Hitze zu generieren.

Ein nächstes Highlight auf Loose Walk ist dann ein Stück aus England aus dem Mai 1958, das Stitt auf seiner ersten Europa-Tournee mit der bereits erwähnten JATP-Package zeigt. Mit Dizzy Gillespie, Lou Levy, Ray Brown und Gus Johnson ist eine hervorragende Band am Start und es macht grossen Spass, ihre Version von Benny Golsons „Blues After Dark“ (Stitt am Tenor) zu hören. Es folgt ein kurzes Balladen-Feature Stitts (am Alt) über „Lover Man“.

Am 1. Mai 1958 begaben sich in Paris einige der JATP-Musiker ins Studio Hoche, um ein paar Stücke für Marcel Carnés eigenartigen Film Les Tricheurs einzuspielen. Roy Eldridge und Stan Getz spielten auf dem Titelstück, Coleman Hawkins auf „Clo’s Blues“, Eldridge auf „Phil’s Tune“ und Dizzy Gillespie auf „Mic’s Jump“. Begleitet werden die Solisten von Oscar Peterson, Herb Ellis, Ray Brown und Gus Johnson. Die vier Stücke erscheinen auf einer Barclay EP und sind seither weitherum bekannt geworden – sie finden sich u.a. als Bonustracks auf der CD-Ausgabe von Herb Ellis‘ grossartigem Verve-Album „Nothin‘ But the Blues“ und sind auch auf „Jazz et cinéma vol. 2“ in der Jazz in Paris Reihe von EmArcy/Universal Frankreich erschienen.
Letztes Jahr erschien in der Collector’s Edition der Jazz in Paris-Reihe eine erweiterte CD, auf der die drei zuvor unveröffentlichten Titel „On the Alamo“ (mit einem false start), „Get Happy (mit drei false starts) und „Sweet Georgia Brown“ (mit studio conversation) zu finden sind. Auf dem ersten spielen Dizzy, Hawkins und die oben genannte Rhythmusgruppe sowie Sonny Stitt (Alt), auf den beiden anderen ist Stitt (Alt) mit Dizzy, Getz und der Rhythmusgruppe zu hören.
Alain Tercinet schreibt in seinen Liner Notes zur Collector’s Edition CD, dass Stitt gar nicht zur JATP-Tour von 1959 (er meint bestimmt 1958) gehört hätte, sondern in Paris gewesen sei, um ein zweiwöchiges Engagement im Blue Note zu spielen: „plucked off the street in petto by [Norman] Granz, Sonny found himself onstage at Salle Pleyel before slipping into the studio with the rest of the band“. Wie das nun mit den beiden angeblich aus England stammenden Stücken auf „Loose Walk“ zusammenpasst (oder eben nicht), ist mir unklar. Dass Stitt kurzentschlossen mit auf eine JATP-Tour ging, halte ich für eher ausgeschlossen. Es könnte vielleicht sein, dass die Aufnahmen aus Paris stammen? Gemäss dem kurzen (anonymen, wohl von Produzent Paolo Piangiarelli stammenden?) Liners der Musica Jazz/Philology CD enstanden die Aufnahmen „durante la prima tournée europea di Stitt, con le ’stelle‘ del Jazz At The Philharmonic, tra le quali in ‚Blue After Dark‘ uno scintillante Dizzy Gillespie“. Ich tendiere dazu, eher Alain Tercinet zu vertrauen, aber wer weiss…
Nach einem Bass-Intro spielt Gillespie auf „On the Alamo“ mit Dämpfer das Thema. Hawkins und Stitt antworten ihm. Hawkins bläst dann das erste Solo, mit seinem grossen Ton und dem robusten, gleichmässigen Swing. Es folgt Peterson, zurückhaltend und swingend. Es folgen Soli von Stitt und Ellis, ebenfalls schnörkellos gespielt. Es folgt Ray Brown und zum Abschluss Dizzy, immer noch mit Dämpfer und obwohl er sich in die etwas verhaltene Stimmung einfühlt, scheint er doch einen Gang höher zu schalten als seine Kollegen.
„Get Happy“ öffnet mit einem kleinen Intro, das auch als Interlude nochmal auftaucht. Das Tempo ist horrend, Gillespie spielt das erste Solo, wieder mit Dämpfer. Dann folgt Getz, scheint etwas ratlos und braucht einen Weile, um mit dem Tempo zurecht zu kommen, findet aber nie so ganz ins Stück rein und honkt mehr herum, als dass er ein kohärentes Solo hinkriegen würde. Stitt folgt am Alt, sein Ton ist anfangs enorm weich und geschmeidig, gewinnt dann mit Zeit an Gewicht und an Biss etwas hinzu. Dann folgt nochmal Dizzy, mit etwas Begleitung von den anderen Bläsern.
Getz klingt besser in seinem öffnenenden Solo in „Sweet Georgia Brown“ (das Thema wird gar nicht erst gespielt, man erkennt das Stück sowieso sofort), auch hier honkt er gehörig, aber er bläst auch ein Solo, das durchaus passt und gegen Ende richtig toll wird. Sein Spiel mit JATP-Gruppen war wohl oft rauher als er sonst spielte. Es folgt Dizzy, wieder mit Dämpfer (aber nicht mit harmon mute wie auf den beiden Stücken davor, glaub ich?) und erneut in glänzender Spiellaune. Stitt ist ebenfalls on, wechselt in seinem Solo zwischen rasanten Phrasen und Momenten des Innehaltens, sprüht nur so vor Ideen. Zum Abschluss folgen exchanges der drei Bläser.
Ein Glück, dass diese Session doch noch aufgetaucht ist nachdem sie jahrzehntelang für verschollen galt!

Auf Loose Walk hören wir Stitt als nächstes in einer langen Version von „Au Privave“, das am 24. Spetember 1964 in Berlin mit Roland Kirk entstand. Stitt spielt Altsax und wird von Kirks „Section“ begleitet, während Klook für einen boppigen Beat besorgt ist. Dann folgt Kirk am Tenor und zum Ende gibt’s ein paar Runden exchanges.
Es ist noch ein bisschen was mehr im Umlauf von Kirk im September 1964. An den ersten Berliner Jazzfest spielte er zweimal: am 26. September in der Philharmonie mit dem Quartett (Tete Montoliu, Jimmy Woode, Kenny Clarke – davon kenne ich bloss ein Stück, „So Long Note, Baby“) und am 27. September mit Stitt, J.J. Johnson und Johnny Griffin in den Prälaten (von da stammt wohl „Au Privave“ auf der Philology-CD… ich hätte noch eine korrigierte Fassung, bei Bedarf… auf dem zweiten Stück „Steeplechase“ ist Stitt nicht zu hören, die Rhythmusgruppe besteht neben Clarke vermutlich aus Montoliu und Potter, es könnten aber auch Walter Bishop und Peter Trunk bzw. Jimmy Woode sein). Kirk – mit Montoliu, Potter und Clarke – treffen wir dann am 2. Oktober in Paris („Domino“) und am 10. Oktober in Mailand („All By Myself“ und „I Remember Clifford“) wieder. Leider scheint Stitt nur in Berlin am Start gewesen zu sein, oder jedenfalls nur dort auch aufgenommen worden zu sein.

Auf Loose Walk folgen dann vier Stücke aus dem Half Note vom 24. März 1966, die Stitt (am Alt und Tenor) mit McCoy Tyner, Walter Booker und Mickey Roker präsentieren – einer für seine Verhältnisse sehr moderner Rhythmusgruppe. „Loose Walk“ und „Tenderly“ präsentiert Stitt am Tenor, für „Old Folks“ und „Au Privave“ wechselt er aufs Alt. Booker und Roker hatten im Vorjahr auf „Sonny Rollins on Impulse“ gespielt und sollten im Jahr darauf mit Tyner an einer Blue Note Session von Stanley Turrentine mitwirken. Die Band klingt sehr gut eingespielt und Stitt bläst entspannte, schöne Soli. Tyner spielt ein schönes Solo auf dem längsten Stück „Loose Walk“ und begleitet aufmerksam in den beiden Balladen.

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