Re: Stan Getz

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Marc Myers meint, Stan Getz‘ Quintett der 50er sei die Antwort der Ostküste auf Gerry Mulligans erfolgreiches Quartett aus Kalifornien gewesen. Der Sound von Getz ist allerdings bedeutend wärmer und im Gegensatz zu Mulligan stilitisch viel mehr aus einem Guss. Getz greift die Musik der kleinen Combos aus der Swing-Ära, auf, reichert sie aber mit einem gehörigen Schuss modernem Jazz an. Auch war Al Haig sein Lieblingsbegleiter – ganz wie bei Charlie Parker.

„I like to play simply, to hold back some of my ideas,“ Getz told Metronome magazine in 1950. „Listen to Bird; you know he’s holding back, that he’s always got something in reserve. You can’t play everything you know.“

Der wunderbare Zauber der frühen Sessions (man höre nur mal „Imagination“, Roost!) mag ein paar Jahre darauf etwas verflogen sein, Getz klingt auf den ersten Verve-Sessions vom Dezember 1952 mit Duke Jordan und dem fabelhaften Jimmy Raney in der Tat recht zurückhaltend. Sein Ton ist gefestigt, da ist immer noch dieser samtene Hauch, die leicht korrodierte Oberfläche, die Patina – aber der Ton ist eben auch gehärtet, stabil, Getz schien angekommen zu sein.

Die Band mit Bob Brookmeyer, die im Zentrum des Hip-O-Select 3CD-Sets Stan Getz Quintets – The Clef & Norgram Studio Albums steht, entstand über ein paar Monate hinweg. Im November spielte Getz im Birdland in New York und trat am 14. auch in der Carnegie Hall auf. Anlass war ein grosses Konzert mit Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Billie Holiday und dem Orchester von Duke Ellington. Duke Jordan sprang am Piano für Gerry Kaminsky ein und war von da an für eine Weile Getz‘ regulärer Pianist – er ist denn auch auf den Sessions für Stan Getz Plays (10″) sowie drei Stücken von The Artistry of Stan Getz (10″) zu hören (abzüglich „How High the Moon“ vom zweiten Album waren sie alle auch auf der 12″ LP „Stan Getz Plays“ zu hören). Ebenfalls entstanden in dieser Konfiguration – Getz, Raney und Duke Jordan sowie Bill Crow am Bass und Frank Isola an den Drums – Getz‘ letzte Aufnahmen als Leader für Roost. Mit Norman Granz hatte Getz meines Wissens zum ersten Mal überhaupt einen exklusiven Vertrag – er sollte in den kommenden Jahren nicht nur mit seiner eigenen Band aufnehmen sondern auch bei diverse All Star-Sessions mitwirken, in den ersten Jahren etwa mit Dizzy Gillespie und Lionel Hampton.

Anfang 1953 verliess Jimmy Raney die Band und Getz machte sich auf die Suche nach einem neuen musikalischen Partner. Drummer Frank Isola empfahl ihm Bob Brookmeyer. Die ersten Aufnahmen dokumentieren die Band im März Hi-Hat in Boston (zwei vergriffene CDs von Fresh Sound). Das Vorbild für den Sound war wohl das Quartett von Gerry Mulligan mit Chet Baker – die verschlungenen Linien wollten Getz und Brookmeyer allerdings noch nicht ganz gelingen. Getz war im Spätsommer 1952 in Kalifornien aufgetreten und hatte da auch eine Woche lang Mulligans Platz im dessen Quartett eingenommen, als dieser versuchte, seine Drogensucht loszuwerden – cold turkey.
Am Schlagzeug sass in Boston Al Levitt, Brookmeyer bekam mit „Darn That Dream“ bereits ein eigenes Stück, in dem Getz ganz aussetzt. Die Aufnahmen leiden zum Teil unter ziemlich üblem Sound, man kann Getz‘ Ton oft mehr erahnen als hören. Dennoch sind sie ein Dokument von Wert, das erste Zeugnis der mit Unterbrüchen über Jahrzehnte währenden Zusammenarbeit von Getz und Brookmeyer.

Die ersten Studio-Aufnahmen mit Brookmeyer entstanden am 16. April 1953 in New York. Mit Pianist John Williams war wieder ein neues Mitglied zur Gruppe gestossen, Crow und Levitt waren nach wie vor dabei. Im Gegensatz zu den Dezember 1952 Sessions liess Granz diesmal auch anderes als Standards zu, Getz‘ Quintett spielte neben „Have You Met Miss Jones?“ drei Brookmeyer-Originals ein: „Rustic Hop“, „Cool Mix“ und „Erudition“.
Der Leader und sein neuer Kollege spielen lebendig und gehen aufgestellt zur Sache, ihre Dialoge machen Spass und wirken engagiert und zupackend. Pianist John Williams trägt mit seinem warmem Sound und den sprudelnden Linien ebenfalls zum Erfolg der Session bei. Bassist Bill Crow walkt und Al Levitt bopt wohl eine Spur mehr als die meisten von Getz‘ Drummern.

Eine Woche später folgte die letzte Prestige-Session von Getz – er nahm als Sideman für Jimmy Raney auf. Ebenfalls dabei waren Pianist Hall Overton, Red Mitchell am Bass und Getz‘ vormaliger Drummer Frank Isola.

Im Frühling und Sommer war Getz wieder in Kalifornien, wurde mit Howard Rumseys Lighthouse All Stars mitgeschnitten (die Stücke können auf diesem Boot/Grey-Release gehört werden – einen Rumsey-Thread brauchen wir wohl eines Tages auch mal noch).

Am 12. Juni nahm Dick Bock das erneute Gastspiel Getz‘ mit Mulligans Quartett auf – es ist auf der oben abgebildeten Blue Note Doppel-CD dokumentiert. Getz versucht sich einigermassen in den speziellen Sound einzugliedern, scheint aber immer mal wieder die Geduld zu verlieren und bricht aus dem Korsett aus. Was da genau vor sich ging werden wir wohl nie wissen, vermutlich ein grosser Kampf der Egos. Getz scheint Baker manchmal förmlich aus dem Weg zu drängen, das Zusammenspiel ist nachlässig, aber die beiden Bläser machen fast alles durch ihre schönen Soli wett. Baker klingt befreit – die Musik des Mulligan Quartetts hatte schon fast ihr Haltbarkeitsdatum erreicht, Baker war bereit, als Leader auf eigenen Füssen zu stehen und in der Lage sowohl dichte und konzentrierte kurze Soli wie auch lange Ausflüge ohne Einschränkungen zu blasen. Das deutet sich in diesen Sessions mit Getz eindrücklich an. Als Bonus enthält die Doppel-CD eine Session vom Sommer 1954, die Getz mit Bakers Quartett (Russ Freeman, Carson Smith, Shelly Manne) im leeren Tiffany Club gemacht hat – die drei aufgenommenen Stücke sind gemeinsam lang genug, als dass sie als 12″ LP hätten erscheinen können!

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