Re: Milt Jackson

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Hörbericht #8

Vorab, hier gibt’s ein sehr unterhaltsames und aufschlussreiches Telefon-Interview zu lesen, das Lazaro Vega 1989 mit Milt Jackson geführt hat. Interessant die Abschnitte über das MJQ, ebenso dass Jackson gegen Ende erzählt, er habe grad kürzlich Lucky Thompson in Seattle angetroffen… und es wird sehr deutlich, warum Jackson den Ruf hatte, kein Blatt vor den Mund zu nehmen… grossartiges Gespräch!

Reunion Blues (MPS, 1971) – im Juli 1971 spielten Oscar Peterson und Milt Jackson zehn Jahre nach ihrem tollen Verve-Album „Very Tall“ erneut im Quartett ein Album ein. Mit dabei war wiederum Ray Brown am Bass sowie Louis Hayes am Schlagzeug. Als Opener hören wir „Satisfaction“ von Jagger/Richards, eine hektische, dichte Angelegenheit („frantic“ ist wohl das Wort dafür), in der aber sofort klar wird, wie gut die vier aufeinander abgestimmt sind.
Gelassener geht’s auf dem Rest der ersten Hälfte. Wunderbar ist „Dream of You“, ein Stück, das Benny Carter und Irving Mills geschrieben haben. Es folgt der Walzer „Someday My Prince Will Come“, in dem Brown im Intro und auch danach enorm präsent ist. Auch auf Johnny Mandels „A Time for Love“ ist Brown – vor allem unter Jacksons Solo – enorm stark präsent. Es folgt ein kurzes Piano-Solo in double time, bevor Jackson das Stück im Rubato bendet.
Die zweite Seite des Albums enthält zwei Blues, die einen weiteren schönen Standard, „When I Fall in Love“, umklammern. Zuerst hören wir eine Neueinspielung von „Reunion Blues“, die nicht an jene von 1961 heranreicht – wie Richard Palmer in seinen Liner Notes zum CD-Reissue von 2005 anmerkt, ist das Stück neben „Satisfaction“ der Schwachpunkt des Albums. Bei beiden Tracks ist es schwierig, zu verstehen, warum sie überhaupt auf dem Programm standen

For starters – literally and otherwise – ‚Satisfaction‘ is hardly auspicious: its iconic status notwithstanding, this Rolling Stones composition is not so much routine as just dull. If it was deemed a smart move to genuflect in the direction of the rock market, why weren’t the band’s much more invigorating ‚It’s All Over Now‘ or ‚Get Off My Cloud‘ considered? As it is, even in these guys‘ hands, ‚Satisfaction‘ is forgotten almost as soon as heard; the fact that it is ‚faded‘ in then-modish fashion just confirms the inconsequentiality.

Brown glänzt in „When I Fall in Love“ mit einem Solo-Intro und der Präsentation des Themas. Sein Ton ist fast, warm, seine Intonation absolut sicher – sein Bass singt hier förmlich. Jackson und Peterson folgen mit Soli. Zum Abschluss hören wir „Red Top“, einen fast neun Minuten lange Blues und das grosse Highlight des Albums. Hier stimmt einfach alles, Petersons erdiges Piano, Jacksons lange Linien, Browns riesiger Ton, Hayes‘ messerscharfe Drums. Ein grossartiges Stück zum Abschluss eines Albums, das ein wenig unter den Erwartungen und ein gutes Stück schwächer ist als sein Vorgänger „Very Tall“ von 1961. ***1/2 (Tendenz zu ****)

In den 70ern begann Milt Jackson – oft gemeinsam mit Ray Brown und/oder Oscar Peterson – eine Flut von Aufnahmen für Norman Granz‘ neues Pablo-Label zu machen. Ich kenne davon noch nicht mal die Spitze des Eisbergs. Am Jazzfestival Montreux im Jahr 1975 nahm Granz mehrere Alben auf, Jackson und Peterson waren ebenso vor Ort wie Dizzy Gillespie, Count Basie, Joe Pass, Ella Fitzgerald und viele andere mehr. Stellvertretend für die vielen mir noch unbekannten Aufnahmen stehen hier zwei CDs:

The Dizzy Gillespie Big 7 at the Montreux Jazz Festival 1975 (Pablo, 1975) – Norman Granz, man erinnert sich, hatte in den 40er Jahren seine überaus erfolgreiche und vielerlei Hinsicht bahnbrechende – nicht zuletzt weil er schwarze und weisse Musiker gemeinsam auftreten liess und sich gegen jegliche rassistischen Anwürfe vehement wehrte – Konzertreihe „Jazz at the Philharmonic“ gestartet, mit der er auch in Montreux und anderswo in den 70ern und 80ern neue Aufnahmen machte und diese auf Pablo veröffentlichte. Die Gillespie-Band, die für dieses Konzert zusammengestellt wurde, war eine All-Star Band in dieser Tradition. Neben Dizzy sind Milt Jackson, Tommy Flanagan, Niels-Henning Orsted Pedersen, Mickey Roker sowie die beiden Tenoristen Johnny Griffin und Eddie „Lockjaw“ Davis zu hören. Die Musiker traten in diversen Formationen mit vielen personellen Überschneidungen auf.
Die vier langen Stücke sind Jams, die Musik swingt und macht Spass, ist wenig strukturiert und organisiert… nichts, was man regelmässig hören mag, aber live bestimmt eine tolle Erfahrung. Zu den Höhepunkten zählen Lockjaws schier unglaubliche Soli – Benny Green schreibt in seinen Liner Notes über die „Tough Tenors“, zuerst über die musikalischen Unterschiede, und dann: „The visual contrast ist even more striking, for while Griffin, like almost every soloist, appears to be wrestling with demons, Lockjaw has a really amazing and rather alarming demeanor of a man on a Sunday morning stroll. Waving the saxophone like a peashooter, appearing for long passages to be playing with only one hand, keeping his eyes open, he achieves a relaxation which seems hardly possible.“ Und all das, während er die unglaublichsten kurzen Phrasen ausspuckt, die rhythmisch stets absolut perfekt ausgeführt sind und trotz der häufigen Pausen in seinen Soli auch immer genau an der richtigen Stelle kommen. Besonders phänomenal ist Lockjaw auf dem öffnenenden „Lover“ (das Gillespie unbegleitet beginnt). Weitere Highlights sind die wunderschönen Balladensoli von Jackson und Griffin in „What’s New“.
Die CD enthält als Bonustrack das schöne, fast 16 Minuten lange „I’ll Remember April“, das ursprünglich auf dem folgenden Doppel-Album unten veröffentlicht worden war. ***

The Montreux Collection (Pablo, 1975) – dieses Album ist eine recht typische Granz-Angelegenheit. Quasi eine Reste-Sammlung von diversen Konzerten, von Oscar Peterson („Cubano Chant“) und Joe Pass („Alison“) Solo bis zum Oktett von Benny Carter, Roy Eldridge, Clark Terry, Zoot Sims, Joe Pass, Tommy Flanagan, Keter Betters und Bobby Durham (die drei letztgenannten fungierten auch als Rhythmusgruppe für Ella Fitzgerald, die mit ihnen „The Man I Love“ singt), die als „Jazz at the Philharmonic“ auftraten und mit „Sunday“ zu hören sind (schade, war Jackson da nicht mit dabei).
Jackson ist mit Basie, Eldridge, Griffin, NHOP und Louis Bellson im „Collection Blues“ zu hören, mit seinen eigenen „Big 4“ mit Peterson, NHOP und Roker in „Slow Death“, sowie mit Petersons Sextett mit Pass, Toots Thielemans, NHOP und Bellson in „Woody’n You“ (und im erwähnten „I’ll Remember April“).
Auf der Vinyl-Ausgabe war zudem von den Trumpet Kings (Eldridge, Gillespie, Clark Terry, Peterson, NHOP und Bellson) „Lullaby of the Leaves“ zu hören, das (wie wohl noch andere der Stücke) auch auf dem CD-Reissue des betreffenden Konzertes enthalten ist. ***

Benny Green streicht in seinen Liner Notes Milt Jacksons Rolle – im Zusammenhang mit seinem Blues „Slow Death“ – am ganzen Montreux Jazz Festival 1975 heraus:

Another blues was contributed by Milt Jackson, whose blithe and sparkling jazz was one of the most memorable of all features about Montreux ’75. For a great many years Jackson was professionally preoccupied with the solemn proceedings surrounding the affairs of the Modern Jazz Quartet, and whatever one thought of those proceedings, they have certainly had no adverse effect on Jackson’s marvelous rhythmic buoyancy and profound harmonic knowledge. To hear him playing in this vein and to remind oneself that he was born as far back as 1923 is to wonder ho some musicians manage to preserve their own modernity for so long a period.

Jackson spielt auch im langen „Collection Blues“ mit dem Basie bunch ein sehr schönes Solo. Neben Jackson glänzt – wie Norman Granz in seinen kurzen Notes zum CD-Reissue zu recht erwähnt – besonders NHOP mit schönen Soli, so auch auf dem ungewöhnlich besetzten „Woody’n You“ mit Toots Thielemans an der Harmonika.

In Montreux 1977 hatte Granz ein ähnliches Arrangement mit Claude Nobs und nahm ebenfalls eine ganze Reihe toller Alben auf – auch da war Milt Jackson mit dabei, doch davon später mehr…

Auf der Werkschau über Count Basie Pablo-Jahre, The Golden Years, (1972-1984) sind ebenfalls ein paar Tracks mit Milt Jackson zu hören. Da ist zuerst auf CD1 („Live“) der „Festival Blues“ von Montreux 1975 mit derselben Band, die auch auf dem oben erwähnten „Collection Blues“ zu hören ist, dann auf CD2 („The Small Groups“) der „One O’Clock Jump“ mit Basies Kansas City 5 (neben dem Leader und Bags sind das Joe Pass, John Heard und Louis Bellson).
Ferner sind auf CD3 („Big Band“) und CD4 („Vocalists“) drei Stücke von der Session zu hören, während der „Milt Jackson + Cound Basie + The Big Band“ (2 Vols.) entstanden. Zuerst „Corner Pocket“ und „Every Tub“ mit schönen Soli Jacksons, dann zum Abschluss noch „Lena and Lenny“ mit der Sängerin Sarah Vaughan, die sich im textlosen Gesang übt und – wunderbar und mit einem tollen Solo von Bags!

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