Re: Milt Jackson

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von gestern: Kurzbericht #3

Meet Milt Jackson (Savoy, 1956, 1949, 1954 & 1955) – eine weitere seltsame zusammengstellte Savoy-Scheibe, auf der drei weitere Stücke von der ersten der beiden langen Sessions vom Januar 1956 mit Lucky Thompson zu hören sind (die anderen drei finden sich auf „Roll Em Bags“, s.o.). Zudem enthält die CD noch einmmal „Telefunken Blues“ (exakt gleich lang wie die Version auf dem gleichnamigen Album – aber anscheinend nicht identisch), dann hören wir – wie auch auf „Roll Em Bags“ eine Session von 1949 (wieder mit Billy Mitchell und Julius Watkins, dieses Mal aber mit Bill Massey, Walter Bishop Jr., Nelson Boyd und Roy Haynes). Die Session auf „Roll Em Bags“ war übrigens eine Kenny Clark Session, keine Milt Jackson Session! Das letzte Stück auf „Meet Milt Jackson“ kommt dannn von 1955, von der zweiten „Telefunken Blues“ Session, und präsentiert Jackson als crooner mit denselben Basie-ites und einem Arrangement von Ernie Wilkins. Also eine wahrlich chaotische Sache…
Jedenfalls sind die drei Stücke mit Thompson grossartig, „They Can’t Take That Away from Me“ swingt wunderbar, Thompsons Solo ist unglaublich. „Soulful“ ist eine Hardbop-Nummer (Clarke allerdings spielt Besen – er war einer der grossen Meister darin!). Jackson spielt auch hier das erste Solo, wunderbar swingend, bluesig und doch sehr flüssig und elegant. Thompson folgt mit einem erzählenden Solo, während dem Clarke ein wenig aufdreht. Wade Legge ist übrigens über die ganzen sechs Stücke der Session ein wunderbarer Begleiter und Wendell Marshall ist sowieso ohne Fehl und Tadel (er war lange Zeit Bassist bei Ellington, und das will was heissen!)
Das letzte Stück der Session und auch das dritte, das auf „Meet Milt Jackson“ zu hören ist, ist „Flamingo“, eine schöne alte Ballade – und hier sind die „Artefakte“ leider wieder sehr deutlich hörbar.
Das Piano-Intro des „Telefunken Blues“ ist völlig anders, gemäss Bruyninckx‘ Diskographie handelt es sich auch wirklich um einen Alternate Take. Wess bläst ein grossartiges Solo, sehr nahe bei Coleman Hawkins, dann folgt Jackson am Piano und Henry Coker an der Posaune, Wess an der Flöte, dann kurz Charlie Fowlkes am Barisax.
„I’ve Lost Your Love“ ist eine süssliche Ballade von der ersten Session für „Telefunken Blues“, das Arrangement ist hübsch, Jacksons Gesang erneut nicht unsympathisch. Jackson ist auch schon auf einem der Stücke von „Telefunken Blues“ als Sänger zu hören, das hab ich oben nicht erwähnt.
Die abschliessende Bop-Session ist mit Bill Massey (t) etwas weniger prominent besetzt als diejenige auf „Roll Em Bags“, „Hearing Bells“ gehört dem Leader ganz allein, auf den anderen Stücken steuern Billy Mitchell und Julius Watkins schöne Soli bei, Bill Masseys Ton ist hingegen recht schrill und schroff. **** (1956: *****)

Eine Anmerkung noch zum Sound: es gibt auf alle Ausgabe „Artefakte“, die Drums klingen zwar gut, die Vibes auch, aber da sind gewisse Verzerrungen im Sound, die nicht nur auf dem Proper-Set zu hören sind sonder auch auf der Savoy/Denon CD von 1992. Ich weiss nicht, ob die Doppel-LP „Second Nature“ besser wäre – jedenfalls ist sie der meines Wissens einzige Release, der alle 16 Stücke der Sessions vom 5. und 23. Januar vereinigt (16, weil da auch das Piano-Trio-Feature Hank Jones‘, „What’s New“, drauf ist, das in der Properbox fehlt, wegen dem allein ich mir allerdings die Avid-Doppel-CD gekauft habe… aber da ist ja wie schon mehrfach erwähnt auch noch der Fehler mit „Angel Face“ und „Come Rain Or Come Shine“ bei Proper, im Avid-Set tauchen die Alben „Roll Em Bags“ und „Meet Milt Jackson“ nicht auf, daher fehlt die Session vom 5. Januar dort komplett.
Was für ein Durcheinander!

Auf dem Proper 4CD-Set „Bags of Soul“ sind zudem zwei der drei Stücke von der Atlantic-Session zu hören, die am 17. Januar (zwischen den beiden Savoy-Sessions) stattfand: „Bright Blues“ und „How High the Moon“. Die Stücke stammen vom Album „Ballads and Blues“, das in drei Sessions entstand – ich kenne es leider bisher nicht. Das interessante an den beiden Tracks ist, dass mit Skeeter Best ein Gitarrist dabei ist und mit John Lewis der Pianist des MJQ. Am Bass ist der grossartige Oscar Pettiford zu hören, Kenny Clarke sorgt auf „Bright Blues“ für feinen Besen-Swing. „How High the Moon“ beginnt als Rubato-Ballade mit Jacksons Vibes über Pettifords gestrichenem Bass. Nach dem Thema folgen die Soli wieder über einen mittelschnellen Besen-Beat. Lewis‘ comping ist exzellent und sehr klar wie immer. Thompson wirkt fast noch etwas altmodischer vor dieser Begleitung. Die anderen beiden Sessions für das Album enstanden mit Lewis, Barry Galbraith, Pettiford und Clarke, ein paar woodwinds und Ralph Burns (arr), bzw. mit Barney Kessel, Percy Heath und Larance Marable – sie sind komplett im Proper-Set zu finden, aber ausgerechnet von der Session mit Thompson fehlt ein Stück, „Hello“.

Die lange Session vom 23. Januar (mit der Savoy Haus-Rhythmusgruppe: Hank Jones, Wendell Marshall, Kenny Clarke) reichte dann für zwei ganze Alben und ist (abgesehen vom Piano-Trio-Stück „What’s New“) komplett im Proper-Set zu finden. Das Avid-Set enthält die Session ebenfalls komplett, inklusive „What’s New“.

The Jazz Skyline (Savoy, 1956) – die erste Hälfte der Session landete auf diesem Album, schon im Opener „Lover“ geht’s nach dem witzigen Intro im schnellen Tempo zur Sache. Clarke treibt heftig, Jackson spielt ein schimmerndes rasantes Solo, gefolgt von Thompson, der rasch eine „Zone“ kommt, kurze Phrasen repetiert, variiert, dazwischen einige Male stöhnt und seufzt… ein grossartiger Einstieg in die vielleicht schönste Session von Milt Jackson überhaupt (nun, jedenfalls von denen, die er als Leader gemacht hat). Es folgt die Ballade „Can’t Help Lovin‘ That Man“, in der Thompson aussetzt. Jackson präsentiert das Thema und seine Soli umklammern eine schöne Passage von Hank Jones.
Im swingenden „The Lady Is a Tramp“ präsentiert Thompson das Thema (Jones kriegt die Bridge), Jackson ist der erste Solist. Clarke hält den Beat von Beginn an sehr lebendig und als Thompson zu solieren beginnt, spielt er unglaublich swingend und begleitet dicht. Thompson ist sofort in der Zone, reiht Phrase an Phrase, erinnert ein wenig an Paul Gonsalves, der ein paar Monate später mit einem nicht unähnlichen Solo das grosse Comeback von Duke Ellington einläutete.
Die zweite Seite des Albums beginnt mit „Angel Face“, einer wunderbaren walking ballad mit schönen Beiträgen von Jackson, Thompson und ganz besonders Hank Jones. (Das ist eben das Stück, das irrtümlicherweise doppelt im Proper-Set ist, anstelle von „Come Rain or Come Shine“.) „Sometimes I’m Happy“ wird im mittelschnellen Tempo in einem schönen Arrangement mit Gegenmelodie von Thompson und Clarke an den Besen präsentiert. Das Album endet dann mit „What’s New“ – und hier muss ich eine Richtigstellung machen: es handelt sich dabei nicht um ein Trio-Feature (wie auch die Thompson-Diskographie von Noal Cohen angibt, sondern um ein wunderschönes Balladen-Feature für Lucky Thompson. Leider Gottes klingt die Avid-Version wieder einmal schrecklich, mit enormen Vinyl-Nebengeräuschen… das einzige was ich hier in annehmbarer Qualität habe, ist MP3… ein Grund mehr, die Savoy/Arista-Doppel-LP „Second Nature“ zu suchen, zumal die Denon/Savoy CDs wohl nicht mehr ganz einfach zu finden sind (alle, die ich oben erwähnt habe, habe ich entweder in den Clarke oder Jackson Proper-Sets oder als CDRs, die mir ein Freund gemacht hat). *****

Jackson’s-Ville (Savoy, 1956) – Die zweite Hälfte der Session beginnt mit dem Huckle-Buck, äh pardon, mit „Now’s the Time“ natürlich. Im träge sich dahinschleichenden mittelschnellen Tempo präsentieren Thompson und Jackson das Thema gemeinsam, Clarke spielt mit Besen. Thompson spielt ein grossartiges Solo. Auch hier folgt an zweiter Stlelle mit dem Ellington-Medley etwas balladeskes: Jackson soliert über „In a Sentimental Mood“, es folgt Thompson mit „Mood Indigo“ (er klingt hier für einmal mehr nach Ben Webster denn nach Hawkins) und zum Abschluss Hank Jones mit „Azure“, bevor Jackson zum Abschluss nochmal zu „In a Sentimental Mood“ überleitet.
Die zweite Seite des kurzen Albums enthält wiederum zwei Stücke, beides Jackson-Originals. „Minor Conception“ ist eine schnelle Nummer mit engagierter Begleitung von Clarke. Und an dieser Stelle sei nochmal ein gutes Wort für Wndell Marshall eingebracht: er begleitet mit gutem time, absolut sicherer Intonation und starkem Sound. Grossartig der Dialog von Jackson und Thompson gegen Ende, dann die fours von Thompson und Clarke. Die letzte Nummer heisst „Soul in 3/4“ und ist genau das: ein soulvoller Jazz-Walzer im langsamen Tempo. Jackson soliert zum Auftakt, gefolgt von Thompson. *****

Joop Visser zitiert in seinen Liner Notes zuerst Hank Jones, der über Lucky Thompson und Milt Jackson sagte:

Lucky has always represented a sort of integrity, truthfulness and sincerity that is rare among musicians. Everything he did was for the glorification of the music. Musical integrity, is how you’d sum it up. Milt is the epitome of the same thing in his expression of jazz on the vibes. He has a unique way of playing. He never seems to rush anything, and he can play the fastest tempos with ease, and it all seems relaxed. He makes everything look and sound so easy, but he plays the most difficult things, and Lucky does the same on the saxophone. It seems so effortless and that’s a mark of true artistry, to make it seem as if it’s second nature. It was a rewarding and memorable experience. I have the utmost respect for these people. I’m only sorry I can’t work more with Lucky and Milt.

Visser zitiert auch, was Jackson später über die Sessions mit Thompson zu sagen hatte:

There was little preparation for these dates… obviously little was needed… the original tunes came from quick consultation among the musicians. We just put our heads together, came up with musical ideas to get down on paper, then went ahead and did them. I do remember we wanted to do a blues in 3/4 time. It was different. There were few people playing in waltz time in those days, only Max Roach and Dave Brubeck on a regular basis.

Abschliessend zum Sound dieser Sessions: es gibt wie erwähnt auch auf den – an sich als gut geltenden – Savoy/Denon CDs Störgeräusche und Artefakte. Die Proper-Box klingt ziemlich gut, die Avid-Doppel-CD ist in diesem Fall wohl eher zu vermeiden… (Entschuldigung an ferry, falls Du sie schon gekauft hast… so schlimm ist sie nicht, aber die Proper-Box klingt einfach besser!)

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