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atom
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Joachim-Ernst Berendts Jazzbesprechungen und Essays in der twen lohnen sich eigentlich immer, hier ein Fundstück vom April 1960, das eigentlich viel mehr ist als eine reine Liste.

Meine 10 besten Platten

twen hat mich gebeten, einen Beitrag über die zehn wichtigsten Jazzplatten zu schreiben. Man kann das nicht. Wissen Sie, welches die zehn wichtigsten Symphonien sind? Aber man kann darüber schreiben, welche zehn Platten man selbst am liebsten hört. Das wäre dann die berühmte Frage: Wenn Sie auf eine einsame Insel verbannt würden und dürften nur zehn Platten von Ihren (in meinem Fall) 5000 Platten mitnehmen, welche würden Sie wählen? Und warum? Ich würde auf diese Frage die folgende Antwort geben:

1. Louis Armstrong
Daß „der King of Jazz“ am Anfang steht, ist wenig originell, aber es läßt sich nicht vermeiden. Da ich annehme, daß man mir auf meiner einsamen Insel wenigstens einen Hi-Fi-Plattenspieler in höchster technischer Qualität bewilligt, möchte ich keine der alten Platten aus den zwanziger Jahren wählen. Damals hatte „Satchmo“ Armstrong zwar seine Glanzzeit und vor allem: damals hat er seinen wesentlichen, aus der Jazzgeschichte nicht mehr fortzudenkenden Beitrag geleistet, aber rund dreißig Jahre später hat Armstrong ein Plattenalbum gemacht, das die Vorteile dieser alten Aufnahmen mit einer größeren instrumentaltechnischen Meisterschaft und vor allem mit vorzüglicher Aufnahmetechnik verbindet: „Louis Armstrong plays W. C. Handy“ (Philips B 07038 L). Die amerikanische Fachkritik hat dieses Langspielalbum als das schönste bezeichnet, das es von Armstrong gibt. Der „King of Jazz“ spielt hier mit einem der „Allstar-Ensembles“, mit denen er in den letzten Jahren als „Botschafter des Jazz“ durch die Welt gereist ist, elf Blueskompositionen von William Christopher Handy, darunter das bekannteste Jazzstück, das es gibt – den St. Louis Blues. Handy ist der Mann, der aus dem alten Volksliedmaterial der Neger Kompositionen im Sinn der europäischen Musik gemacht hat. Er gilt als „Vater des Blues“. Das ist er nicht. Blues gab es längst vor ihm, aber er ist der Vater einiger der schönsten Bluesthemen in der Geschichte des Jazz.

2. Jelly Roll Morton
Ich möchte noch eine zweite Platte des traditionellen Jazz wählen, und hier muß man nun doch die Trichtergrammophon-Qualität der zwanziger Jahre in Kauf nehmen. Die „Red Hot Peppers“ des Pianisten Jelly Roll Morton waren damals – zusammen mit der „Hot Five“ und „Hot Seven“ von Louis Armstrong – das wichtigste New Orleans Ensemble. Die Teldec hat die alten Aufnahmen der Red Hot Peppers von 1926/27/28 unter dem Titel „The King of New Orleans Jazz“ so gut wie es geht, auf klanglichen Hochglanz gebracht (RCA LPM-1649-C). Wer heute diese alten Aufnahmen hört, empfindet den Unterschied zu der schwächlichen Modemusik der modernen Dixieland- und New-Orleans-Bands mit großer Deutlichkeit. Hier ist alles stark und ausdrucksreich! Und trotzdem ist Jelly Roll Morton der erste, in einem modernen Sinn „gestaltende“ Jazzarrangeur. Seinen Musikern sagte er, daß er schon zufrieden sei, wenn sie nur „diese kleinen schwarzen Flecke“, die er aufgeschrieben habe – also die Noten – spielen würden. Und trotzdem sagten die Musiker, daß es keinen Bandleader gäbe, der ihnen so viel Freiheit ließe, wie Jelly Roll. Das ist das Wunder aller großen Jazzorchesterchefs: die Musiker zu zwingen, das zu spielen, was der „Bandleader“ will, und ihnen trotzdem das Gefühl zu geben, daß sie das spielten, was sie selbst wollen.

3. Billie Holiday
Natürlich sollte man auch eine Platte der großen Jazzsängerinnen mit auf die einsame Insel nehmen. Es gibt da verschiedene Möglichkeiten zwischen Bessie Smith, die in den zwanziger Jahren die „Kaiserin des Blues“ war, und Ella Fitzgerald, die heute als die perfekteste Jazzsängerin gilt. Ich möchte einen Mittelweg vorschlagen: Billie Holiday. Billie gehört in den Bereich des Swingstils, des Jazzstils der dreißiger Jahre. Sie ist im Sommer 1959 gestorben, und ihr Leben war – zwischen Prostitution, Rauschgift und Rassendiskriminierung – das trübste und dunkelste Leben, das man sich denken kann. Nicht einmal Billie Holiday selbst ist es gelungen, dieses Leben zu erzählen – in ihrer Autobiographie „Schwarze Lady sings the Blues“. Aber in ihren Liedern erzählt sie es: voll bitterer Resignation und düsterer Schwermut (auf der einsamen Insel dürfte ich die Platte nicht gar zu oft spielen, sonst würde ich mich noch einsamer fühlen). Philips hat die schönsten Aufnahmen von Billie Holiday unter dem Titel „Billie Holiday Memorial“ (B 070550 L) herausgebracht, beginnend mit ihrer ersten Platte, die sie 1933 machte, und endend mit der letzten Aufnahme im Februar 1959, wenige Monate vor ihrem Tod. „Nach allem, was wir wissen, werden wir uns nie wieder treffen …“ singt sie hier. In ihren Begleitensembles hat Billie die größten Musiker der Swingzeit: Jack Teagarden, Benny Goodman, Johnny Hodges, Harry Carney, Teddy Wilson, Buck Clayton, Roy Eldridge und immer wieder Lester Young, der ihren Gesang mit jenem Einfühlungsvermögen umspielt, hinter dem nicht nur eine musikalische, sondern auch eine starke menschliche Bindung stand.

4. Duke Ellington
Bei Duke Ellington, dem grand old man des großorchestralen Jazz ist die Auswahl noch schwieriger als bei Louis Armstrong. Fest steht nur, daß er auf die Insel muß. Ellington ist eine wegweisende Persönlichkeit in der Jazzentwicklung von der Mitte der zwanziger Jahre bis heute. Und es gibt keinen anderen Jazzmusiker, der so ununterbrochen in Hochform war wie er. Trotzdem gibt es ein Ellington-Orchester, das von den Fachleuten besonders gelobt wird: die Ellington-Band von 1940. Der entscheidende Mann – nächst Ellington versteht sich – war hier der Bassist Jimmy Bianton, der damals die moderne Baß-Spielweise schuf und dem Ellington-Orchester vom Baß her eine rhythmische Spannung gab, wie Ellington sie selten besessen hat. Für alles übrige sorgte Duke Ellington selbst – vor allem für die unvergleichlich reiche Klangpalette, mit der er seine „Tongemälde in Jazz“ schafft. Die acht schönsten Aufnahmen dieses Ellington-Orchesters gibt es unter dem Titel „This is Duke Ellington“ auf RCA EPBT-3017-1/2. Unter den acht Stücken befindet sich das „Concerto for Cootie.“ Es ist das klassisch gewordene Jazz-Concerto, in dem der Trompeter Cootie Williams mit dem Ellington-Orchester konzertiert (auf der RCA Platte heißt es „Do nothing till you hear from me,“ weil es so berühmt wurde, daß man ihm später einen Text unterlegt hat).

5. Count Basie und Lester Young
Ich würde gern auch eine Cool-Jazz-Platte auf der einsamen Insel haben, aber ich weiß keine, die alle übrigen Cool-Jazz-Aufnahmen so sehr überragt, daß man sie mit Sicherheit wählen müßte. Selbst auf den Höhepunkten des Cool-Jazz gibt es vieles, was modisch war – etwa beim Modern Jazz Quartet. Und vor allem: was auch im Cool-Jazz – dem Jazzstil in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre gespielt worden ist, es geht alles letztlich auf Count Basie und auf Lester Young zurück. Die beiden haben ihre großen Aufnahmen Ende der dreißiger Jahre gemacht. Ihren Einfluß aber übten sie in den fünfziger Jahren. Auf Coral gibt es eine vorzügliche Sammlung von zwölf wichtigen Stücken des alten Count-Basie-Orchesters: „The Count Swings Out“ (97011 LPCM). Gewiß, die Basie-Band spielte damals nicht so präzis wie das heutige Count-Basie-Orchester, aber sie „kocht“ vor großen und neuen Ideen. Die alte Basie-Band war eine Brutstätte vorzüglicher Solisten. Und der wichtigste von ihnen ist der Tenorsaxophonist Lester Young, der Mann, der an die Stelle der zupackenden Dramatik des bisherigen Jazz eine unvergleichliche lyrische Intensität gesetzt hat. Lester Young hat gezeigt, daß man auch in einer so vitalen Musik, wie es der Jazz ist, nicht auf die leisen Zwischentöne zu verzichten braucht.

6. Charlie Parker
Ein englischer Kritiker hat einmal geschrieben: Von zwei Musikern im weiten Raum des Jazz sei ganz sicher, daß sie Genies im alten, großen Sinn dieses Wortes seien: Louis Armstrong und Charlie Parker. Charlie Parker ist der Altsaxophonist, der – mehr als irgendeinein anderer Jazzmusiker – den Bebop mit seinen wilden, jagenden, nervösen Melodiegängen repräsentiert. Charlie Parker zu hören und zu verstehen, ist das eigentliche Abenteuer des Jazz – ein Abenteuer, bei dem all die Gefährdetheit und Unruhe, die es im Leben Parkers gab, auf den Hörer überspringen. Charlie Parkers Altsaxophon ist die ausdrucksreichste Stimme des modernen Jazz – in jeder Note der Bluestradition verbunden, aus den Urgründen einer gequälten Seele kommend. „Ich war immer in einer Art Panik“, hat er gesagt. Die wohl beste Parker-Platte, die es auf dem deutschen Schallplattenmarkt gibt, ist „The Art of Charlie Parker“ (Jazztone 1017). Parker spielt hier in der Quintettbesetzung, mit der er dem modernen Jazz jene klare instrumentale Form gegeben hat, die für den traditionellen Jazz der dreistimmige Kontrapunkt der Dixielandband gewesen ist: Trompete und Saxophon über einer Rhythmusgruppe aus Piano, Schlagzeug und Baß. Der Trompeter des Quintetts ist Miles Davis – der Musiker, der nach dem Tod Charlie Parkers (1955) der überragende Jazzimprovisator werden sollte.

7. Miles Davis
Was bei Charlie Parker revolutionärer Überschwang ist, wurde bei Miles Davis ruhige, abgeklärte, durchaus ein wenig resignierte Überlegenheit. Ein bekannter Jazzkritiker schrieb: „Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß niemals zuvor in der Jazzgeschichte das Phänomen der Einsamkeit in so eindringlicher Weise examiniert wurde wie von Miles Davis.“ Miles examiniert die Einsamkeit zunächst einmal mit seinem Ton, dem wohl schönsten Ton, den je ein Jazzmusiker besessen hat, immer – selbst wenn er die lustigsten Stücke spielt – von einer leisen Melancholie umflort. Es gibt kaum einen anderen Jazzmusiker, der seine Aussage so sehr in seinem Ton konzentriert wie Miles Davis. Deshalb ist es schwer, die beste Davis-Platte zu nennen. Die erfolgreichste heißt „Round About Midnight“ (Philips B 07198 L). Auch hier gibt es die Quintettbesetzung, von der vorhin bei Charlie Parker die Rede war. Saxophonist ist John Coltrane: ein Musiker, der mit seinen rhythmisch verschachtelten Tenorsaxophonlinien in den letzten Jahren mehr neues Land erschlossen hat als irgendein anderer Saxophonist. Intensivste, konzentrierteste Spannung ist das Prinzip der Improvisationen von John Coltrane. Und der Kontrast zwischen der Ausgeglichenheit Miles Davis‘ und dem Spannungsreichtum Coltranes bildet einen zusätzlichen Reiz der Platte.

8. Art Blakey und Thelonious Monk
Nach der Ausgeglichenheit des Cool-Jazz kam in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre der „moderne Bop“. Hier ist nichts mehr resigniert. Alles ist wild und vital und voller Protest, aber gleichwohl verfügen die Musiker des modernen Bebop über die breite Skala musikalischer Möglichkeiten, die der Cool-Jazz erschlossen hat. Immer gewichtiger wird nun der Einfluß von Thelonious Monk. Noch vor wenigen Jahren galt er als ein Wegbereiter des Bebop in der ersten Hälfte der vierziger Jahre. Inzwischen wird deutlich, daß Monk damals bereits einen Jazzstil angebahnt hat, der jetzt erst im Kommen ist. Immer häufiger beziehen sich die Musiker der jungen Jazzgeneration auf Thelonious Monk. Auf der Platte „Art Blakeys Jazz Messengers with Thelonious Monk“ (Atlantic 1278) gewinnt dieser Bezug den Rang einer Plattendokumentation. Monk spielt hier als Pianist von Art Blakey’s Jazz Messengers, des „wildesten“ Ensembles des modernen Bop. Der Schlagzeuger Blakey ist ein Vulkan sich überschlagender explodierender Rhythmen. Seine Messengers – seine „Botschafter“ – sind ein Quintett, aus dem in den letzten Jahren viele junge Musiker hervorgegangen sind – zum Beispiel die drei, die auf dieser Atlantic-Platte mit Blakey und Monk spielen: der Tenorsaxophonist Johnny Griffin, der Trompeter Bill Hardman und der Bassist Spanky DeBrest. Es ist faszinierend zu hören, wie Monk seine „asymmetrischen“ Figuren und seine aufgelösten Phrasen im Hexenkessel der Messenger-Musik „zelebriert“.

9. Gospel
Ich glaube, ich sollte auch eine Aufnahme religiöser schwarzer Musik mit auf die Insel nehmen, nicht nur wegen meines Seelenheils. Im modernen Gospelsong sind die alten Spirituals vitaler und mitreißender geworden, als man es je erwarten durfte. Nicht umsonst beziehen die „Hexenkessel-Musiker des modernen Bop“ so viele Ideen aus der religiösen Musik ihrer Rasse. Und nicht umsonst haben so viele von ihnen musikalische Verneigungen vor ihrer Congregation (Gemeinde) oder vor ihrem Reverend (Pfarrer) aufgenommen. Die berühmteste Gemeinde ist die „Congregation Of The Temple Church Of God And Christ“ (Gemeinde der Tempelkirche Gottes und Christi) in Washington. Der berühmteste Pfarrer ist Reverend Kelsey. Auf Brunswick (10110 EPB) hört man, wie so ein Gottesdienst in der Tempelkirche in Washington vor sich geht: wie Pfarrer Kelsey da unversehens zum Vorsänger wird und wie der Gottesdienst aus einem ständigen, elektrisierenden Zwiegespräch zwischen dem Pfarrer und der Gemeinde besteht, bis dann mit einem Male der Gospelsong spontan „losbricht“. Der schwarze Dichter Langsten Hughes wies darauf hin, daß man bei diesen Gottesdiensten erfahren könne, was das Wort Evangelium ursprünglich bedeute: Frohe Botschaft. „Geht man in europäische Kirchen“, sagte er, „könnte man leicht auf Trauerbotschaft tippen.“

10. Johann Sebastian Bach
Tja, ich würde auch eine Platte von Bach mitnehmen. Über die Beziehungen zwischen dem Jazz und der alten Musik ist in den letzten Jahren genug geredet worden. Und daran, daß diese Beziehungen wirklich bestehen, zweifelt kaum jemand mehr, nachdem sie nicht nur von der Seite des Jazz, sondern auch von der Seite der alten Musik aufgezeigt wurden. Aber nicht deshalb würde ich eine Bach-Platte mitnehmen. Ich würde sie aus dem gleichen Grund mitnehmen, aus dem sich fast alle wichtigen Jazzmusiker, so lange es Jazz gibt, zu keinem der großen europäischen Komponisten stärker hingezogen fühlen als zu Bach: einfach weil sie ihn gern hören und weil sie unbewußt – über die Welt hinweg, die zwischen diesen beiden so verschiedenen musikalischen Sprachen klafft – eine gemeinsame Saite schwingen hören. Das Stück, bei dem „die gemeinsame Saite“ am stärksten schwingt, ist Bach’s Concerto in d-Moll für zwei Violinen und Orchester. Nicht umsonst beginnt die Serie der Bach-Tribute, die es seit zwanzig Jahren im Jazz gibt, mit einer Swing-Verneigung dreier großer Jazzmusiker vor diesem Concerto (aufgenommen 1937 von dem schwarzen Geiger Eddie South, dem französischen Geiger Stéphane Grappelly und dem belgischen Zigeunergitarristen Django Reinhardt auf His Masters Voice.) Aber Bach’s Concerto für zwei Violinen „swingt“ auch dann genug, wenn man es so spielt, wie der alte Johann Sebastian es sich gedacht hat – vor allem, wenn die Geiger Vater und Sohn (David und Igor) Oistrakh heißen. Ihre Interpretation des Bach-Concertos würde ich mitnehmen (Deutsche Grammophon 18393), und ich hätte dann außer Bach noch zwei Werke von Tartini und Vivaldi als Zugabe. Ich weiß, ich würde die Platte brauchen können, wenn ich vorher die dunklen und lastenden Songs Billie Holidays oder die jagenden, stechenden Phrasen Charlie Parkers oder die sich überschlagenden Rhythmen Art Blakey’s gehört habe. Nur Lester Young und Miles Davis sind von ähnlicher, ruhe-ausströmender Tröstlichkeit.
Im übrigen würde ich finden: wenn ich längere Zeit auf der einsamen Insel sein müßte, möchte ich die zehn Platten nach einer gewissen Zeit austauschen dürfen. Nicht nur deshalb, weil ich sie dann so abgespielt hätte, daß auch die Hi-Fi-Aufnahmen nach „zwanziger Jahren“ klingen würden.

Gefunden hier.

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Hey man, why don't we make a tune... just playin' the melody, not play the solos...