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Netter Bericht zu Tori Amos und ihrem Klavier anlässlich des anstehenden Konzerts in der Liederhalle, Stuttgart:
Selten röhrend, oft betörend
Jan Ulrich Welke, 03.06.2014
Stuttgart – Für schwäbische Sparfüchse ist dieses Instrument wohl eher nicht geeignet. 139 000 Euro Listenpreis werden für den Konzertflügel Modell 280 der österreichischen Klaviermanufaktur Bösendorfer fällig; das sind umgerechnet noch mal ein paar nagelneue rumänische Kleinwagen mehr, als das Flaggschiff des ja auch nicht gerade schlecht beleumundeten Klavierherstellers Steinway kostet.
Über sechs Exemplare dieses Steinway-Topmodels D 274 verfügt die Stuttgarter Liederhalle zwar, Stückpreis etwa 120 000 Euro, aber wenn Tori Amos am Pfingstmontag vorbeischaut, können sie alle im Lager bleiben. Die Musikerin besteht nämlich darauf – wie einige Virtuosen (einst Vladimir Horowitz und heute Krystian Zimerman) und einige sehr eigene Köpfe (Neil Young etwa, der bei seinem letzten Auftritt im Beethovensaal drei eigene Tasteninstrumente mitbrachte) –, auf ihrem eigenen Fortepiano zu spielen; und den über fünfhundert Kilogramm schweren Koloss wird sie auf ihrer aktuellen Konzertreise am kommenden Montag auch in die Stuttgarter Liederhalle mitbringen.
Fünf Grammy-Nominierungen und viele verkaufte Platten
„Nur ich komme. Und mein Klavier“, erzählt sie vor einigenTagen am Telefon. Das zeugt einerseits von einem erfreulich unbedingten Willen zur Perfektion, ist aber hinsichtlich ihrer aktuellen Musizierlaune auch ungewöhnlich. Denn Tori Amos hat zwar das bemerkenswerte Kunststück fertig gebracht, als Pianistin Karriere im Popmusikbusiness zu machen, mit immerhin fünf Grammy-Nominierungen und rund zehn Millionen verkauften Tonträgern. Andererseits hat sie schon wahrlich viel ausprobiert, von der kleinen Rockbandformation auf ihrem Debütalbum „Y Kant Tori Read“ über A-cappella-Aufnahmen, Harmonium- und Cembalo-Instrumentierungen bis hin zum klassischen Orchester auf ihrem vorzüglichen Album „Night of Hunters“. Das erschien 2011 bei der Deutschen Grammophon und wurde mit der vermutlich läppischsten Ehrung ihrer Karriere behängt, dem „Kassik ohne Grenzen“-Echo. Zuletzt erschien ihr experimentelles Album „Gold Dust“ – das sie einfach gleich noch einmal komplett neu aufgenommen hat. Ähnlich hat es übrigens fast gleichzeitig ihre stimm- und seelenverwandte Kollegin Kate Bush bei der CD „Director’s Cut“ gehalten.
Verblüffend ist Amos’ anstehendes Gastspiel im Hegelsaal jedoch, weil die gebürtige US-Amerikanerin vor wenigen Tagen ein extraordinär gutes Album veröffentlicht hat, das nicht etwa solo am Piano, sondern in einer dezenten Kammermusikbesetzung eingespielt worden ist. „Unrepentant Geraldines“ heißt es. Dass ungeübte Englischsprecher schon die Bedeutung des Titels im Fremdwörterlexikon nachblättern müssen, liefert erste Indizien für die wunderbare Komplexität, mit der die Verse der darauf befindlichen Songs gedrechselt sind.
Mal mit Hammondorgel, mal mit einem Glockenspiel
Doch allein die dazugehörige, exzellent von ihr komponierte Musik sollte ihr, wenn es noch einen Funken Gerechtigkeit auf dieser Welt gibt, gewiss zu einem Platz unter den Top Ten bei den besten Alben des Jahres verhelfen. Tori Amos wühlt bezaubernd in den acht (!) kompletten Oktaven, die nur die großen Bösendorfer bieten, buttrig tönen die Songs, ohne jeden Ausfall präsentiert sie dieses ganz vorzügliche Werk, das klassische Song*writermusik mit ebenso zartem wie zupackendem Pop mischt. Blendend reduziert ist diese Album in ihrem eigenen Tonstudio eingespielt worden, zarte Schlagzeugtupfer lugen bisweilen aus den Arrangements, hier die glasklare Akustikgitarre ihres Lebensgefährten Mark Hawley, dort eine Hammondorgel oder ein Glockenspiel, dazu ihre mühelos die Oktaven durchstreifende Stimme. Paradigmatisch dafür stehen die exzellenten Stücke „Trouble’s Lament“, „Wedding Day“ und „Weatherman“, die neben lyrischer Tiefe eine geschliffen luzide Spielweise bieten. „Unrepentant Geraldines“ ist ein schon musikalisch tolles Album.
Dazu kommt Tori Amos’ zeitlebens gepflegter Impetus, Musik als untrennbare Symbiose aus Klang und Botschaft zu betrachten. Die fünfzigjährige gebürtige Amerikanerin aus einem Provinznest in North Carolina, die mittlerweile in einem Provinznest im britischen Cornwall lebt, die mit zwei Jahren das Klavierspiel begann, mit fünf aufs Konservatorium ging und mit dreizehn Jahren ihre Pianistenkarriere in einem Nachtclub begann, hat schon über viel gesungen. Ihre Verwerfungen mit der (Musik-)Industrie, mit der sie sich oft genug gezofft hat, ihre eigene Vergewaltigung, natürlich über 9/11 und in einem Konzeptwerk auch über Georgia O’Keeffe; Themen mithin, die genau den windelweichen Marketingkonzepten der Musikindustrie richtig wehtun, weshalb man sie allein dafür knuddeln wollte.
Die hervorragende Musikerin hat ein brillantes Album vorgelegt
Auf ihrem aktuellen Album singt sie mal glockenhell, mal betörend röhrend über Edward Snowden, die NSA, ihr geschundenes Heimatland, das „sich selbst erst einmal auf die Abendschule verfrachten muss, um die Gesetze zu begreifen“, wie sie es in „America“ thematisiert – sprich: nicht gerade die heitersten Seiten unserer Gegenwart sind das, die hier zu hören sind.
Im weiteren Verlauf des Telefongeprächs macht sie dann übrigens ihrem Ruf als exzentrische Tonkünstlerin mit sehr speziellen eigenen Ansichten so viel Ehre, dass sich angesichts ihres unglaublichen Redeflusses zwar so viel herausdestillieren ließe, dass man damit diese ganze Zeitungsseite füllen könnte, anderseits aber ganz schön viel und all dies ganz schön wirr durcheinanderging.
Weswegen wir nun fast schon nicht mehr glauben mögen, dass sie tatsächlich ganz alleine kommt, ansonsten aber schlichtweg ihre bezaubernde Musik für sich stehen lassen wollen und festhalten, dass die hervorragende Musikerin Tori Amos ein brillantes Album vorgelegt hat. Es wird sich gewiss lohnen, dessen Liveinterpretationen anzuhören.
Stuttgarter Zeitung von heute: http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.saengerin-tori-amos-selten-roehrend-oft-betoerend.0dd5cf7e-ad7b-4c7e-a117-6d5ba566ce06.html
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I'm pretty good with the past. It's the present I can't understand.