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Alles gesagt über „Born This Way“? Ein totaler Ausfall? Viele wussten das eh schon, weil es ja Gaga ist, weil es „Kirmestechno“ ist, weil die Musik doch völlig unwichtig ist neben der Inszenierung. Aber auch manch ein Gaga-Fan zeigte sich tief enttäuscht. Das traurige Ende einer großen Liebesgeschichte zwischen Pop-Brillanz und Mainstream? Der Aktualitätsdruck versetzte einen gerade in diesem Fall in Meinungswang. Am Freitag gestreamt, am Montag veröffentlicht, am Dienstag die Urteile bereits gefällt. „The Fame Monster“ hatte es einfacher, zumindest hier im Forum, es wurde nach und nach entdeckt, ein individueller Aneignungsprozess. Es gab keinen Album-Thread und kein gespanntes Warten auf das Erscheinen. In den Jahrescharts 2009 spielte „The Fame Monster“ kaum eine Rolle, in Updates würde es jetzt sicher häufiger genannt werden.
Beim ersten Hören von „Born This Way“ fühlte auch ich mich überrumpelt. Ein dröhnendes, pathetisches, überproduziertes Album? Doch ich wollte nicht sofort eine Meinung zu diesem Album haben, auch nicht nach zwei oder drei Durchgängen. Hier nun meine Eindrücke nach zwei Wochen mit „Born This Way“, wobei ich die Tracks vielfach auch einzeln gehört habe. Was sicher legitim ist, denn bei Gaga gibt es keine Tracks, die „nur im Albumkontext“ funktionieren. Ein guter Gaga-Track ist eine potentielle Single.
MARRY THE NIGHT geht zu Beginn auf Nummer sicher – eine „Dancer In The Dark“-ähnliche Club-Hymne, die im Vergleich aber abfällt und es dem Hörer zu leicht macht. Gaga-Tracks wollen schließlich erobert werden! Das grandiose Finale reißt aber einiges raus. ***
Auch wenn es Gaga-Verehrern nicht gefällt: In 20 Jahren wird man auf ü30-Partys vor allem zu BORN THIS WAY sentimental werden. „Born This Way“ ist „Imagine“ und „I Will Survive“ in Personalunion, der menschheitsumarmende Messagesong des frühen 21. Jahrhunderts, der alle kleinlichen Bedenken – klingt das nicht zu sehr nach Madonna? glaubt Gaga etwa an das „Schwulengen“? – niederwalzt. ***1/2
Das war es dann zum Glück erstmal mit Botschaften: GOVERNMENT HOOKER ist eine angenehm dreckige, unhymnische und bass-lastige Electro-Balzerei, die man auch gerne auf „The Fame Monster“ gehört hätte. ****
„I Get Around“? Ach komm, diese Beach Boys klingen doch immer gleich … So ungefähr lauteten die ersten Kommentare zu JUDAS. Natürlich ist das ein Gaga-Trademark-Song, der an „Poker Face“ und „Bad Romance“ anknüpft, aber mit wieviel Grandezza, Coolness und melodischer Brillanz! Auch nach 100 Spins bekomme ich nicht genug davon. ****1/2 – und bald sind es 5!
„I met a girl in East LA, in floral shorts as sweet as May. She sang in eights in two-barrio chords, we fell in love, but not in court.“ Ein Traum von einem Intro. Aus dem man dann allerdings brutal geweckt wird. AMERICANO ist tatsächlich die Kirmes-Beschallung, die man Gaga so gerne attestiert. Vielleicht will uns die Herrin aber auch nur eine Prüfung auferlegen … **
Und dann ist es soweit: Lady Gaga ist nicht nur Born this way, sondern auch Born to run. MY HAIR ist, den Beat und die Synths beiseite gelassen, so sehr Bruce wie der es selbst wohl nie wieder sein wird, nicht nur wegen Clarence Clemons (man achte nur einmal auf die Bridge!). Ein Teen-Drama aus dem Herzen des puritanischen Amerika. ****
Wem das zu pathetisch war: SCHEISSE hat alles, was man sich von Gaga wünscht. Die Hooks, den Charme, das Herz und die Lässigkeit. Und nie zuvor hat jemand das Lieblingswort der Deutschen so elegant gesungen. ****1/2
Das Album ist über weite Strecken so laut und grell, dass ein melancholischer Track wie BLOODY MARY zunächst kaum auffällt. Doch wenn man dran bleibt, entdeckt man das „So Happy I Could Die“ des Albums. Ein schönes Beispiel übrigens für Gagas durchaus nuancenreichen Gesang. Und spätestens hier sollte klar sein, dass ihre Obsession für biblische Motive weder etwas frömmelndes hat noch spekulativ provozieren will. Es sind nichts anderes als Metaphern für die Liebe. ****
In BAD KIDS trifft die Spät-70er Donna Summer auf die Mitt-80er Madonna. ***1/2
Gaga verbeißt sich in die Dancefloor-Rock-Hymnen mit ganz großer Geste. HIGHWAY UNICORN ist für sich genommen vielleicht nicht schlecht, aber im Albumkontext zu viel und ohne überzeugende melodische Ideen. **1/2
HEAVY METAL LOVER bleibt trotz des Titels rockfern und erinnert an eleganten French-Filter-House vergangener Tage, wie er auch Kylie Minogue gut stand. Hat melodisch allerdings auch nicht viel zu bieten. ***
Zu wahrer Größe findet Gaga dann wieder auf ELECTRIC CHAPEL. Die Verschmelzung von Rock und Dancefloor gelingt hier ohne schalen Pathos. ****
Nichts gegen Robert „Mutt“ Lange und Brian May, aber sie wären besser ferngeblieben, denn Gagas Doobie-Brothers-Exkurs YOÜ AND I, aus dem etwas zu machen gewesen wäre, gerät mit Unterstützung der beiden über weite Strecken zur Inkarnation der Rockhölle. **
Einen versöhnlichen Abschluss bietet THE EDGE OF GLORY, eine weitere Verneigung vor dem Boss, die schönste Melodie des Albums und die Rehabilitierung des Saxophons als pop-affinem Instrument ****1/2
Aus „Born This Way“ hätte ein konsistentes, überzeugendes Mini-Album wie „The Fame Monster“ werden können, wenn man sich auf Tracks wie Hooker, Bad Kids, Bloody Mary und Electric Chapel konzentriert und das Rockpathos im Zaum gehalten hätte. Eine qualitative Berg-und-Talfahrt war auch ihr erstes Album, das ebenfalls unter der zu großen Zahl an Tracks litt. Es ist streckenweise länglich, aber nicht ärgerlich wie die Ausfälle auf „Born This Way“. Die *1/2 – **-Sterne-Wertungen von Gaga-Fans kann ich allerdings nicht nachvollziehen, dafür hat das Album zu viele große Gaga-Momente, die entdeckt werden wollen. ***1/2
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