Re: Neil Young – A Treasure

#7982221  | PERMALINK

nail75

Registriert seit: 16.10.2006

Beiträge: 45,067

Mein Bericht über das Album ist ziemlich lang geraten, aber vielleicht interessiert ja doch den einen oder anderen:

A Treasure ist eine bislang unveröffentlichte Liveaufnahme aus Neil Youngs turbulenten 1980er Jahren – mit einer Countryband namens International Harvesters einschließlich Pedal Steel und Fiddle. Warum dieses Album viel zum Verständnis des Künstlers Neil Young beiträgt, steht im folgenden Text.

Die bislang interessantsten Produkte von Neil Youngs gigantomanischem Archives-Projekt sind die im Rahmen der Performance Series herausgegebenen Konzertmitschnitte. Von den bisherigen Veröffentlichungen können vor allem der sensationelle Mitschnitt eines hart rockenden Konzerts mit Crazy Horse auf Vol. 2 (Live At The Fillmore East, 1970) und die atemberaubend-intime Soloperformance auf Vol. 3 (Live At Massey Hall 1971) Anspruch auf höchste Weihen erheben. Beide sind für Neil Young-Fans so essentiell wie After The Gold Rush oder On The Beach.

Vol. 9 der Performance Series, ein Konzert aus dem Jahr 1985, trägt den Titel A Treasure, weil der verstorbene Neil Young-Intimus Ben Keith, der auch Teil der International Harvesters war, beim Wiederhören des Konzerts nach vielen Jahren ausrief: „This is a treasure.“ („Das ist ein Schatz.“) Nach dem Hören von A Treasure ist man geneigt, Keith zuzustimmen – jedenfalls weitgehend.

Die 1980er Jahre waren für Neil Young ebenso schwierig wie für viele andere Helden der 1960er wie Bob Dylan oder Joni Mitchell. Eine Reihe von schwachen Alben in gewöhnungsbedürftigen Stilen veranlasste seine damalige Plattenfirma Geffen sogar, Neil Young zu verklagen. Old Ways war eines dieser Stilexperimente, ein lupenreines Country-Album mit über-wiegend schwachem Songmaterial, dem die übermäßig glatte, mit unnötigen Sperenzien angereicherte Produktion keinen Gefallen tat.

A Treasure folgt stilistisch zwar Old Ways, ersetzt dessen Stromlinienförmigkeit jedoch durch die Leidenschaft live aufgeführter Country-Musik. Eine exzellente Band, die International Harvesters, (vornehmlich) bestehend aus Ben Keith an der Pedal Steel (und anderen Instrumenten), Anthony Crawford (Gitarre, u.a.), Tim Drummond (Bass), Spooner Oldham (Klavier), Karl Kimmel (Schlagzeug) und dem sensationell spielenden Rufus Thibodeaux (Fiddle), sorgt mit unbändiger Spielfreude für eine mitreißende Atmosphäre, in der Neil Youngs Lieder erst wirklich ihre Klasse entfalten können.

Glücklicherweise griff Neil Young in der Auswahl der Stücke für A Treasure nicht nur auf Aufnahmen der Old-Ways-Lieder zurück, sondern wählte mit Flying On The Ground Is Wrong sogar einen Song aus der Buffalo Springfield-Zeit aus, der im Original von Richard Furay gesungen wurde. Außerdem überarbeitete er zwei Lieder von seinem 1981 erschiene-nen Album Re-ac-tor. Eine selten thematisierte Seite von Neil Young ist sein Hang zu störrischer Nostalgie, wie in Southern Pacific, einem Lied über eine vornehmlich in Kalifornien und dem Südwesten der USA tätige Eisenbahngesellschaft. Das Lied, aufgenommen zu einem Zeitpunkt als nur noch Ayn Rand Eisenbahnen für die Zukunft hielt, stellt sich ebenso ent-schlossen wie vergeblich gegen die unbeugsamen Realitäten der Zeit („Roll on Southern Pacific, on your silver rails“). Die musikalische Ausgestaltung ist allerdings außerordentlich eindrucksvoll, die Musiker lassen ihre Instrumente wie Zugsignale klingen, wozu Neil Young mit echter Überzeugung den Schaffner mimt.

In die gleiche Kerbe haut das alberne Motor City, das gegen die Dominanz japanischer Autos Stimmung macht und die Fähigkeiten von Motor City, also Detroit und der großen amerikanischen Autokonzerne propagiert! Neil Youngs engstirnige politische Sichtweise der frühen 1980er im Zeichen des Wahlsiegs von Ronald Reagan ist wohlbekannt, aber Motor City entpuppt sich als engagierter Ruf zu den Waffen, sofern man in der Lage ist, über den lächerlichen Inhalt hinwegzusehen.

Die interessantesten Stücke auf A Treasure sind jedoch die bislang unveröffentlichten Lieder. Die euphorische, seiner Tochter gewidmete Ode Amber Jean bildet einen exzellenten Auftakt, dem gleich darauf die nicht minder engagierte Performance des Harvest-Klassikers Are You Ready For The Country folgt. Die zahlreichen thematischen Verbindungen zu Harvest sind in diesem Zusammenhang ebenso bemerkenswert, wie Neil Youngs Wunsch nach einem einfachen, ländlichen Leben, der durch das ebenfalls auf A Treasure vertretene Get Back To The Country auf Old Ways erneut aufgegriffen wird.

Let Your Fingers Do The Walking ist ein sympathischer Honky Tonk ohne sonderlichen Tiefgang, aber mit der Art überbordender Musikalität, die A Treasure lohnenswert macht. Der Country-Blues-Rocker Soul Of A Woman geht das, wiederum von Harvest bekannte, A Man Needs A Maid-Thema („Soul of a woman, soul of a man, perfect combination, ever since the world began”) von einer musikalisch ganz anderen Seite an. Die gefühlvolle „Ballade“ Nothing Is Perfect zeigt Neil Young wiederum als wertkonservativen Sympathisanten traditioneller, gottesfürchtiger Arbeiterfamilien.

Den hervorragenden Abschluss von A Treasure bildet das mysteriöse Grey Riders, das eine bedrohliche Szenerie mit wildem Instrumentengewitter charakterisiert. Überflüssig ist lediglich das Cover von It Might Have Been, das im Wesentlichen wegen des fantastischen Spiels von Thibodeaux lohnt. Das von Old Ways in einer besseren, langsameren Version bereits bekannte Bound For Glory wirkt zudem in seiner Liveversion hölzern, daran ändern auch einige wunderbare Momente von Ben Keiths Pedal Steel nichts.

Dennoch ist A Treasure aufgrund seiner Stilvielfalt, seiner Spielfreude und den ausgezeichneten unveröffentlichten Liedern eine hervorragende Ergänzung der Archives Performance Series, die vornehmlich diejenigen begeistern dürfte, die Neil Young nicht nur als Rockmusiker begreifen. Darüber hinaus bildet es eine Seite von Neil Young ab, die in der öffentlichen Betrachtung häufig vergessen wird. Wenn die Auftritte mit CSNY und die politischen Lieder/Platten wie Ohio, Southern Man oder Living With War Neil Youngs liberalen Idealismus in Reinform verkörpern, so zeigt A Treasure seinen traditionalistischen Konservatismus in bestem Licht. Ein Schatz ist A Treasure – im Gegensatz zu den Fillmore und Massey Hall-Aufnahmen – nicht, aber sehr wohl ein gar nicht unsympathisches Schätzchen.

****

--

Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.