Re: john lenwood "jackie" mclean

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IT’S TIME (1964)
ACTION (1964)
RIGHT NOW (1965)
CONSEQUENCE (1965)
JACKNIFE (+ HIGH FREQUENCY, 1965/66)

diese sechs Alben/Sessions gibt es gesammelt in:
THE COMPLETE BLUE NOTE 1964-66 JACKIE McLEAN SESSIONS (Mosaic, 4CD, 1993
die zweite Session des Doppel-Albums JACKNIFE (HIGH FREQUENCY) ist ausserhalb der Mosaic-Box nie auf CD erschienen

ausserdem:
Lee Morgan – TOM CAT (1964)
Lee Morgan – CORNBREAD (1965)
Lee Morgan – INFINITY (1965)
Lee Morgan – CHARISMA (1966)


Lee Morgan und Jackie McLean im Studio Rudy Van Gelders, 16. November 1965 – Session für Lee Morgans INFINITY (Photo: Francis Wolff)

Mit unverzeihlicher Verspätung also hier der lang versprochene Post zu den McLean-Sessions der Jahre 1964-66 – genauer gesagt gibt es wegen der Menge an Musik drei Teile. Warum ich schon früh angemeldet hatte, diese Phase gerne zu übernehmen, hat einen Grund: Für meine Ohren bilden diese Sessions – fünf der sechs unter McLeans Leitung zumal – eine Art Kulminationspunkt im Schaffen des Altsaxophonisten. Hier findet er nach den Experimenten mit Grachan Moncur III und Bobby Hutcherson wieder zurück in den Hard Bop im weitesten Sinne, aber die Experimente sind keinesfalls vergessen sondern werden eingebaut in die neue Musik, die damals auf den Alben IT’S TIME, RIGHT NOW und ACTION zu hören war. Gemäss den Katalognummern erschienen sie in dieser Reihenfolge. Die zwei Sessions, die später auf der Doppel-LP JACKNIFE erschienen, erhielten zwar Katalognummern, erschienen aber nicht. Die ebenfalls erst später erschienene CONSEQUENCE ist stilistisch eher ein Schritt zurück (oder auch einer nach vorn, so einfach lassen sich McLeans Wandlungen jener Jahre am Ende ja doch nicht einordnen, der „schwarze“ Hard Bop, den er mit Kenny Drew im Montmartre in den frühen Siebzigern aufnahm hätte ja in der Form 1965 kaum gespielt werden können – Erfahrung kann eben, zumal von ehrlichen Menschen, nicht verleugnet werden). Ähnlich verhält es sich mit dem Grossteil der Musik, die McLean in derselben Zeit mit Lee Morgan einspielte.

David Rosenthal schreibt in seinen Liner Notes zur oben erwähnten Mosaic-Box:

David RosenthalThe bittersweetness of McLean’s sound is sometimes reminiscent of Billie Holiday, to my mind the first hard bopper. When asked about her possible influence, he replied: „Oh, no question about it … Yeah, it is true, very true. Few people hear that, but it’s true. There was nothing that I could take from her, there was nothing that I could really apply to the horn in terms of a sound from her voice, but there was something in her emotion and expression, the way she approached a melody, the way she didn’t just sing a melody straight, the way she bent notes and stuff, the feeling that comes with her sound: that was something that I wanted to have. I didn’t try to do anything to get it, I just liked it, and maybe something else that might have had a lot to with it is my mother listened to her a great deal and I heard her in my childhoood, so she had a great influence on me.“

Die Sessions der Jahre 1964-66 führen also verschiedene Stränge von McLeans Musik zusammen. Da ist einerseits die Kohärenz, die er seit den Jahren bei Blakey gewonnen hatte, andererseits die Abenteuerlust, die er mit Moncur und Hutcherson augelebt hatte, zudem knüpfen zwei hervorragende Alben in Quartettbestetzung an einen Meilenstein direkt vor der Avantgarde-Gruppe an, LET FREEDOM RING (1962). Die Alben bilden zudem so etwas wie den Schlusspunkt von McLeans Arbeit, als es noch eine halbwegs funktionierende Jazzszene gab. Aufnahmen wie HIPNOSIS, DEMON’S DANCE, ‚BOUT SOUL oder die tolle Kollaboration mit Ornette Coleman bilden dazu eine Art erweiterte Coda (vgl. Kapitel VII, das vorgarten wieder übernehmen wird). Auch neben diesen Alben läuft die Schiene mit konventionellerem Hardbop weiter (dazu dann Kapitel VIII, das wohl eher VIIa heissen sollte, und das ich wieder übernehmen will).

Über die Sechziger äusserte McLean sich gegenüber Rostenthal wie folgt:

Jackie McLeanJohn Coltrane certainly brought the music to another level of experimentation, Ornette and those people, but there are several things we’re talking about … The sixties were the most crazy time, because there was a lot of side politics going on around the music that caused the musicians to reflect their environment in a certain way with all of those assassinations in the sixties. I mean, the music went completely wild and crazy. The free movement came just at a time to be a reaction, a musical reaction to what we lived around. I know during that time that I also became very interested in free music. It was time for that, and so it was time a of experimentation. I made some records then that I felt were definitely experimental, the things on Blue Note with Bobby Hutcherson and those guys, Grachan and all that.

Doch „completely wild and crazy“ war McLeans Musik wohl nie, in den Jahren, um die es hier geht, gelang ihm gerade die Verbindung dieses freien Spirits mit all seinem Können: dem Bebop, dem Funk von Horace Silver, den starken Blues Wurzeln, den Gospel-Elementen, die er in den Fünfzigern bei Charles Mingus mit auf den Weg bekommen hatte, den modal angelegten Stücken von Miles Davis usw. Rosenthal meint: „Rather than jettisoning his previous style, McLean expanded it, absorbing new ways of thinking and playing, but leaving other elements of his approach in tact. He didn’t surrender to free jazz; he used it as another genre, like blues or ballads, to be added to those he had always cultivated.“ – Ich möchte das nicht als Breitseite gegen den Free Jazz verstehen (Rosenthal zeigt sich da in seinem Buch über den Hard Bop ja sehr offen) sondern als Lob für McLean, der nach langen unsteten und sicherlich sehr harten und Junkie-Jahren seinen Weg ging, mit einer Sicherheit, die es ihm erlaubte, Neues zu absorbieren ohne sich verbiegen zu müssen.

Personell gibt es in diesen Jahren Anküpfungspunkte an die 1963er-Band (Bobby Hutcherson spielt allerdings nur auf einem Album und Roy Haynes, der in solchen Settings glänzte, wurde leider nach DESTINATION … OUT nur noch einmal ins Studio geholt), aber – wenn nicht personell so wenigstens von der Besetzung her – auch zu LET FREEDOM RING. Lee Morgan war bei Blue Note immer gerne gesehen, er wirkte 1963 ebenso wie in den folgenden Jahren öfter mit, wenn McLean ins Studio ging, doch die grosse Entdeckung dieser Aufnahmen ist ein anderer Trompeter, mit dem McLean stellenweise eine nahezu symbiotische Beziehung aufbaut: Charles Tolliver. Als ich – gegen Ende der Neunziger – die Mosaic-Box kaufte und diese sechs Sessions zum allerersten Mal hörte, hatte ich von Tolliver wohl noch nicht einmal den Namen gehört.

Die erste Session fand am 5. August 1964 in Rudy Van Gelders Studio in Englewood Cliffs, New Jersey statt, dem Ort aller Sessions, um die es hier geht. Das Album erhielt den Titel IT’s TIME!, versehen mit einer langen Reihe von Ausrufezeichen. Darüber die Namen der Mitwirkenden: Charles Tolliver, Herbie Hancock, Cecil McBee und Roy Haynes. Tolliver und McBee waren zum ersten Mal auf einer McLean-Session zu hören, Hancock und Haynes hatten beide bereits – auf sehr unterschiedlichen Sessions – im Vorjahr mit McLean für Blue Note aufgenommen.

Der Opener heisst programmatisch „Cancellation“, Rosenthal beruft sich auf den Komponisten Tolliver und meint, es sei tatsächlich eine „cancellation“ bisheriger Jazztraditionen gemeint gewesen. Allerdings bewegt sich die grossartig zusammengestellte Band zwischen „inside“ und „outside“ als gäbe es nichts Leichteres. Chromatik und Ganztonleiter kommen zum Einsatz, McLean und Hancock verbiegen die Changes nach Lust und Laune – und vergessen dennoch nie den Kern der Sache. Auch Tolliver weiss in seinem Solo trefflich mit der Vorlage umzugehen, sehr toll begleitet von der Rhythmusgruppe, besonders von Hancock, der telegramm-artige Motive repetiert. Haynes sorgt für einen durchaus tighten Puls, den er aber in alle Richtungen dehnt und streckt, mit seinem üblichen „crispy“ Sound, während McBee der perfekte Mann für diese Musik ist und mit seinen tiefen, frei schwingenden Linien für ein so erdiges wie bewegliches, so verlässliches wie unvorhersehbares Fundament sorgt.

Weiter geht es mit einem kleinen Schock, „Das‘ Dat“ von McLean spielt nicht nur im Titel mit Anspielungen auf Stücke wie Bobby Timmons‘ „Dis Here“ und „Dat Dere“ – es handelt sich um einen souligen Blues, der in McLeans erstem Solo (geniales Motiv zum Einstieg, klingt allerdings eher wie McLean 1959 als 1964) allerdings von Roy Haynes zum Leben erweckt wird, während McBee walkt und Hancock die Changes einhält, ihnen aber eine durchaus charakteristische Hancock-Tönung gibt. Tolliver folgt, steigt zurückhaltend ein, lässt sich von Haynes treiben aber spielt ein schnörkelloses Solo ganz ohne Mätzchen, mit klarer Diktion und seinem tollen bittersüssen Ton. Hancock bleibt auch im Solo bluesig aber klischeefrei (ein Trio-Album mit den dreien wäre fein – warum machte Lion eigentlich fast keine Piano-Trio-Alben? Immerhin hat Hancock das mit dem Geheimagentencover machen dürfen, Trio + Percussion)

Es folgt das zweite McLean-Original, „It’s Time“. Es ist ein offenes, modal angelegtes Stück wie Tollivers Opener. McLean soliert wieder als erster, wechselt zwischen Bop-Motiven, erdigen Blues-Phrasen, freien Linien – und ist wie immer in dieser Phase mit kurzen Seufzern oder Schreien zwischen den Phrasen zu hören. Tollivers Solo ist abstrakter, Hancock begleitet ihn nur sparsam und auch dann ohne dass er ihn irgendwie akkordisch einengen würde. Es folgen Soli von Hancock (minimalistisch, hartnäckig und doch leicht und lyrisch), McBee und – hochverdient: Haynes. Andererseits kann man durchaus das ganze Album als ein langes Schagzeugsolo anhören, so toll spielt Haynes hier auf!

Tollivers Name umgekehrt buchstabiert ergibt das erste Stück der zweiten LP-Seite: „Revillot“. Ein Thema, das mit seinem Wechsel von Fanfaren (über einen Vamp) und verschroben heurmspringenden Linien an Eric Dolphy erinnert. Haynes glänzt von Beginn weg, McBee scheint das Thema als Ansporn für ziemlich wild herumrasende Walking-Bass-Linien zu nehmen, die er auch rhythmisch permanent anders akzentuiert, was zur Stimmung beiträgt, dass hier jegliche Gewissheit gefährdet ist. Tolliver soliert als erster, treffsicher und sehr agil. McLean folgt mit einem kristallklaren Ton, der etwas schlanker wirkt als sonst – was der Beweglichkeit durchaus dienlich ist. Und die Rhythmusgruppe sorgt auch hinter ihm dafür, dass kein Moment der Ruhe entstehen kann. Doch McLean scheint in sich zu ruhen, wirft Zitate ein („Pent-Up House“ und irgendwo scheint er in einen kubanischen Klassiker zu fallen, lässt den Hook, der das Zitat dann aber eindeutig werden liesse, weg – vielleicht ist es ja auch kein Zitat). Hancock spielt erneut ein reduziertes Solo, das auf wenigen Ideen und Motiven aufbaut, umsichtig strukturiert und sehr faszinierend.

„‚Snuff“ stammt wieder aus McLeans Feder, eine bluesige AABA-Nummer in 32 Takten mit einem Thema, in dem Bläser und Rhythmusgruppe Frage-und-Antwort spielen, während die Bridge Hancock gehört. Bluesig aber zugleich frei ist sein Solo, freier als alles andere auf dieser Session wohl. Er verzahnt sich an kleinen Motiven, spielt kinderliedartige Linien, die sich in freie Läufe verwandeln, fällt in melodiöse Motive, streut ein paar Blues-Klischees ein; ein ganz hervorragendes Solo! Tolliver folgt und hält das Niveau, er übernimmt hier den klagenden Part. Hancock begleitet ihn ganz anders, viel enger gewissermassen. Hancock spielt dann das letzte Solo, verbindet darin impressionistische Momente (Bill Evans lässt grüssen) mit härteren Passagen (wofür dann wohl Sonny Clark Pate stand, der ja mit McLean auch aufgenommen hat).

Zum Abschluss folgt Tollivers drittes Stück, die Ballade „Truth“. Er stellt das Thema an der Trompete vor, während McLean ihn mit liegenden Tönen begleitet und Hancock ein paar Akkorde und Arpeggi einstreut. Tolliver soliert dann auch als erster, fällt ins doppelte Tempo, das Haynes so halb aufgreift. McLean spielt dann auch ein kurzes Solo, gefolgt von Hancock, bevor Tolliver zum Abschluss das bezaubernde Thema wiederholt. McLean wird in den Liner Notes zu ACTION zu diesem Stück bzw. zu Tollivers Können als Balladen-Komponist wie folgt zitiert: „The way I hear it … there are dark colors in my mind when I lsiten to one of his ballads – purples, blacks, dark blues. No light greens or yellows.“

Die nächste Session fand am 11. August 1964 unter Lee Morgans Leitung statt und erschien mit eineinhalb Jahrzehnten Verspätung in der LT-Reihe als TOM CAT. Die Session ist in mancher Hinsicht speziell. Morgan hatte eine steile Karriere begonnen noch bevor er volljährig wurde, für Blue Note nahm er bereits in den Fünfzigern sechs Alben als Leader auf. In Dizzy Gillespies Big Band schaffte er seinen Durchbruch, der Leader überliess ihm gar das berühmte Solo-Break in der Paradenummer „A Night in Tunisia“. 1961, nach insgesamt sieben Blue Note- und zwei Vee Jay-Alben und dreieinhalb Jahren mit Art Blakey & The Jazz Messengers verschwand Morgan allmählich aus dem Rampenlicht. Er kehrte zurück nach Philadelphia, versuchte, seiner Probleme (das grösste davon: Heroin) Herr zu werden. Im November 1963 stand er wieder im Studio von Rudy Van Gelder und nahm an den Aufnahmen von Grachan Moncurs EVOLUTION (vgl. Kapitel V) und Hank Mobleys NO ROOM FOR SQUARES Teil. Im Dezember folgte sein nächstes eigenes Album, THE SIDEWINDER, im Februar 1964 dann SEARCH FOR THE NEW LAND und im April und Mai war er zurück bei den Messengers für INDESTRUCTIBLE. Lee Morgan was on a roll, wie man daraus einfach erkennen kann – jedes der genannten Alben ist ein Klassiker. Und mit dem Titelstück von THE SIDEWINDER landete Morgan den grössten Hit, den Blue Note jemals hatte. Nach drei oder vier Tagen waren die ca. 4000 ursprünglich gepressten Exemplare verkauft. Das Stück schaffte es in die Top-100 der Pop-Charts, lief in Jukeboxen, im Radio, als Thema von TV-Shows, in einer Chrysler-Werbung … der erste Crossover-Hit des Jazz.

Dieser Erfolg setzte Blue Note unter Druck. SEARCH FOR THE NEW LAND und TOM CAT, das Album, das Morgan im Sommer als drittes nach seiner Pause einspielte, blieben vorerst im Kasten, man versuchte mit Andrew Hills Titelstück zum Album THE RUMPROLLER den nächsten Boogaloo-Crossover-Hit zu landen. SEARCH erschien wenig später dann doch, aber auf TOM CAT musste das Jazzpublikum bis 1980 warten. Dabei ist das Album sehr gut, mit einer superben Band spielte Morgan einige seiner besten Kompositionen ein. Curtis Fuller, der Partner von den Jazz Messengers, war mit dabei, ebenso deren Leader Art Blakey, der an sich schon längst nicht mehr für Sideman-Aufnahmen zur Verfügung stand, für seine Lieblingsmusiker Morgan aber eine Ausnahme machte. Am Klavier hören wir McCoy Tyner, wie Morgan aus Philadelphia und nach vier Jahren bei John Coltrane bestens bekannt. Den Bass spielt Bob Cranshaw, der schon auf EVOLUTION und THE SIDEWINDER dabei war und zum Blue Note regular werden solte. Und am Altsax hören wir selbstverständlich Jackie McLean, der zuerst auf Morgans siebtem Blue Note Album, LEE WAY (1960) mitgewirkt hatte.

Den Auftakt macht Lee Morgans Titelstück „Tom Cat“. Tyner spielt einen mysteriösen Blues-Vamp, begleitet von Cranshaw und Blakey, dann präsentieren die drei Bläser das Thema, ein synkopiertes Riff, das sich mit dem Vamp der Rhythmusgruppe verzahnt. Diese hält die reduzierte Begleitung hinter Morgans Solo aufrecht. Wie Blakey mit minimalen Mitteln die Begleitung verändert und prägt, ist sehr toll zu hören. Mit einem seiner berühmten Rolls lanciert er dann den Übergang in eine 4/4-Begleitung, die wiederum Morgan zu Läufen in doppeltem Tempo animiert, denen er aber auch die so typischen kleinen Motive entgegensetzt, Wiederholungen, Riffs, kleine Veränderungen an der Tonhöhe, die ihn zum grossen Meister der Hard Bop-Trompete machen. McLean folgt, und auch für ihn fällt die Rhythmusgruppe zunächst wieder in den Vamp. Man denkt hier eher an Aufnahmen wie „Yams“ (von VERTIGO, rec. 1963, auch erst in der LT-Serie erschienen) oder weiter Zurückliegendes denn an die Aufnahmen, die McLean im Vorjahr mit Moncur gemacht hat, doch sein Solo ist hervorragend aufgebaut und auch er schaltet beim Wechsel der Rhythmusgruppe in den 4/4 einen Gang höher. Fuller folgt, die Struktur wird beibehalten, auch für Tyner, der zunächst ein paar funky Läufe spielt, die an Herbie Hancock erinnern. Das Stück endet mit der Repetition des Themas (es wird stets zweimal gespielt, genau wie auch die ersten beiden Chorusse der Solisten vom Vamp begleitet werden) und wird dann über dem Vamp der Rhythmusgruppe ausgeblendet.

Die erste Seite der LP enthielt noch „Exotique“, wieder aus Morgans Feder und erneut neuneinhalb Minuten lang. Die Bläser spielen das tatsächlich leicht exotisch klingende Thema, wobei auffällt, wie schön Morgan und McLean zusammen phrasieren. Larry Kart schrieb dazu in seinen Liner Notes zu CONSEQUENCE (vgl. unten) ein paar Zeilen, die Michael Cuscuna wiederum in seinen Liner Notes (zur CD-Ausgabe? von da hab ich sie jedenfalls) von TOM CAT zitiert:

Larry KartAlso worth mentioning is the way Lee and Jackie play the heads together. Such ensemble niceties weren’t granted too much attention at the time because the music was felt to be essentially soloistic, but I can think of few things in jazz more fascinating than the way McLean and Morgan perfectly blend their sounds (each so totally individual) to create a third sound that has the emotional richness of both and something more besides.

Die Nähe der beiden wird auch bei der Stabsübergabe von Morgan zu McLean bei den Soli klar. Doch von vorne: die schöne Melodie erklingt zunächst im Rubato über einen Orgelpunkt von Cranshaw und Tyner mit Akzenten Blakeys, dann etabliert die Rhythmusgruppe einen Latin-Beat und nach ein paar Takten spielen die Bläser erneut das Thema. Der Latin-Beat bleibt leicht ambivalent, kann als 12/8 aber auch als 4/4 gehört werden (Tyner spielt im Übergang mit seinen Akkorden dieses langsamere Tempo und deutet es auch in der Begleitung der Solisten später immer wieder an). Die Soli von Morgan und McLean scheinen wie aus einem Guss, Fuller folgt dann etwas entspannter aber mit einem ebenfalls tollen Solo (im ersten Stück ist er wohl etwas schwächer), das sich mit seinen repetitiven Passagen schön mit Blakeys Beat verzahnt. Tyner folgt, sehr lyrisch, dann ein kurzes zweites Solo von Morgan und schliesslich ein paar Takte von Blakey, der während des abschliessenden Themas mehr oder weniger weitersoliert, ohne je den Groove zu vergessen.

Die zweite Hälfte des Albums besteht aus drei etwas kürzeren Stücken, den Auftakt macht das letzte Morgan-Original, „Twice Around“, bei dem ein Orgelpunkt der Rhythmusgruppe die Bläser lanciert, die das Thema zunächst in einem binären Groove spielen, bevor alles zusammenfällt und das Thema im Swing wiederholt wird. Fuller soliert dann als erster, das Tempo ist hoch, Blakey begleitet hervorragend und er ist es wohl auch, der schon bald nach Beginn von McLeans Solo mit einem tiefen Schrei zu hören ist. So richtig freispielen mag McLean sich in diesem Rahmen nicht, zu dicht ist wohl das Spiel der Rhythmusgruppe, zu prägnant die Akkorde Tyner, dennoch spielt er tolle Soli. Lee Morgan übernimmt hier als letzter der Bläser, als die Suppe schon richtig am Kochen ist. Für Tyner wird die Flamme danach etwas heruntergefahren, doch Blakey hat weiterhin seinen Spass, singt und grunzt und spielt tolle Fills. Dann erneut Lee Morgan, als wäre er nur rasch weggewesen und hätte Tyner seinen Platz besetzen lassen. Sofort kocht die Musik wieder – bis sie in Blakeys Solo für einen sehr effektvollen (und sehr kurzen) Moment nahezu zum Stoppen kommt.

Es folgt McCoy Tyners Ballade „Twilight Mist“, mit einem hohen Orgelpunkt des Basses (à la „Naima“) und einem klagenden Thema, das Morgan zunächst allein vorstellt, bis gegen Ende McLean und Fuller liegende Töne zur Begleitung spielen. Für sein Solo wechselt Morgan dann ins doppelte Tempo, ohne dass die Rhythmusgruppe ihm wirklich folgt – und auch ohne dass er die bezaubernde Stimmung durchbrechen würde.

Den Abschluss macht dann „Rigormortis“. Das Stück läuft unter M(orris?) Levy, H(enry?) Glover und J. Dell (Joey Dee?), keine Ahnung, was es damit auf sich hat, ob es von Glover ist (das würde ich mal vermuten, er war bei Roulette unter Vertrag daher dann auch Levy), wer Dell ist, oder ob es irgendwem für ein Sandwich abgekauft wurde. Jedenfalls passt es zum Rest des erstklassigen Materials dieser Session. Morgan und McLean spielen in den A-Teilen der AABA-Struktur gemeinsam den riffenden Lead (von Fuller in tieferen Lagen begleitet), die (sechzehn-taktige) Bridge gehört Tyner. Die allesamt guten Soli stammen der Reihe nach von Morgan, McLean, Fuller, Tyner, erneut Morgan, woraus sich dann ein hitziges Zwiegespräch mit Blakey ergibt, bevor die Band mit dem Thema wieder einsteigt und das Stück mit einem kleinen tag beschliesst.

Man mag den grossen (Funk-)Knaller vermissen, man mag McLean in freierem Rahmen bevorzugen, aber das Album ist als Ganzes wirklich hervorragend gelungen.

Doch 1964 war noch nicht um und McLean nahm ein weiteres Album als Leader auf. Nach einem ersten Anlauf mit Steve Ellington am Schlagzeug eine Woche zuvor (rejected takes von „Plight“ und „Wrong Handle“) enstand ACTION (eigentlich: ACTION ACTION ACTION) am 16. September 1964. Schon beim Intro wird klar, dass wir hier ganz anderes Territorium beschreiten als mit Morgan. Die Atmosphäre ist geladen, Charles Tollivers bittersüsse Trompete, Bobby Hutchersons Vibraphon sowie die Rhythmusgruppe aus Cecil McBee und Billy Higgins steht bereit für weitere McLean’sche Grosstaten. Das Tempo in seinem Opener „Action“ ist schnell, die Bläser spielen schräge Linien, zu denen Hutcherson sich gesellt, im Wechsel mit kurzen Schlagzeug-Soli, kaum glaubt man eine einprägsame Linie zu hören lanciert McLean auch schon sein Solo – ohne Changes, ohne festgelegte Skalen. Higgins/McBee liefern einen Puls, Hutcherson begleitet sparsam – und McLean spielt ein atemberaubendes Solo, in dem er von kleinen Motiven ausgeht, die er herumschiebt, immer melodisch, auch in der äussersten Reduktion, und immer mit unglaublichem Drive. Tolliver findet erfolgreich einen Weg, nach diesem Solo überhaupt weiterzuspielen, spielt flächig, Hutcherson begleitet zunächst viel dichter, setzt dann aber ganz aus, was Tolliver viel Raum lässt, um mehr in die Vertikale zu gehen und seinerseits zu brennender Intensität zu finden. Was Hutcherson und stellenweise auch McBee in der Begleitung anstellen ist überragend und gibt natürlich auch für die Solisten die Richtung vor. Higgins sorgt für einen viel dichteren Puls als Haynes es auf dem Vorgänger-Album tat, weniger anregend aber umso treibender – auch freier Jazz kann swingen! Hutcherson spielt dann das nächste Solo und kommt mit dem freien Rahmen bestens zurecht, er steigt wie Tolliver zurückhaltend ein, wird dann intensiver, zitiert längere Zeit „Driva Man“ (den Opener von Max Roachs epochalem Album !), auch seine Stimme ist öfter zu hören, wie McLean kommentiert er sein eigenes Spiel spontan, summt manchmal auch mit. Higgins spielt dann das letzte Solo und das Stück endet mit einer Rekapitulation des ungewöhnlichen Themas. Ein elfminütiger Parforce-Ritt und einer der Höhepunkte der Blue Note-Avantgarde!

Enspannter geht es in „Plight“ zu, Tollivers erstem Original dieser Session, das einmal mehr seine grossen Qualitäten als Komponist bezeugt. McLeans ungewöhnliche Intonation sorgt im Thema für reichlich Spannung zwischen Trompete und Saxophon, Hutcherson, McBee und Higgins sorgen aber für Sicherheit und einen tollen Groove (es handelt sich um einen Dreier). McLean spielt das erste Solo, dicht an der Vorlage und mit sehr tollem Ton, der auch die Tiefe des Instruments auslotet und die Changes aufs schönste auskostet. Tolliver folgt, leichter, höher, aber nicht weniger nah am suggestiven Thema – und gegen Ende seines Solos ist er in einem Lee Morgan mood. Hutcherson bewegt sich dann am weitesten vom Thema weg ohne es zu verleugnen, das Fehlen eines Harmonieinstrumentes kommt ihm dabei zu Gute.

Die zweite Seite des Albums bestand wieder aus drei etwas kürzeren Stücken, den Auftakt macht Tollivers Ballade „Wrong Handle“ (bei der Session trug das Stück noch den Namen einer Frau, doch Tolliver und sie trennten sich bevor das Album in Druck ging), die im Intro zunächst ein wenig an „Willow Weep for Me“ denken lässt, melodisch dann aber ganz eigene Wege geht. Tolliver präsentiert das Thema über eine zweite Stimme McLeans und ein raffiniertes Arrangement der Rhythmusgruppe. Tolliver spielt das erste Solo, wieder etwas wärmer als gewohnt. McLean folgt, intensiver als Tolliver aber nicht weniger melodisch, und auch Hutcherson, der mit seiner Begleitung die Stimmung im Stück sowieso massgeblich prägt, glänzt mit einem feinen Solo zum Abschluss.

Es folgt – Überraschung – ein Standard, eine zügige Version von „I Hear a Rhapsody“, die nach „Action“ wie ein grober Stilbruch klingt. Hutcherson präsentiert das Thema, die Bläser antworten ihm, während McBee/Higgins den patentierten Halftime-Groove des Miles Davis Quintetts der Fünfziger anstimmen. In Hentoffs Liner Notes wird McLean zitiert, wie er das Stück in den frühen Fünfzigern von Charlie Parker hörte, wie dieser es vollständig in Beschlag genommen habe und wie er, McLean, es nicht spielen konnte. „But one night a couple of years ago at the Coronet in Brooklyn, someone requested it, and I went up to the mike and started the melody. I played that melody over and over again until finally it came to me and I got inside the song.“ – und genau das macht McLean hier, mit wunderbarem Ton und einer bezwingenden Idee nach der anderen, klassisches Storytelling. Es folgt Hutcherson mit einem ebenso konzisen Solo (und wieder mit Stimmeinsatz), bevor das Thema mit den catchy Bläser-Einwürfen wiederholt wird.

Den Abschluss macht McLeans zweites Stück „Hootman“ – ein groovy Blues, der solo von McBee mit dem Thema eröffnet wird, dann übernimmt Hutcherson die Melodie, begleitet von McBee und Higgins, der einen tollen Beat beisteuert, die nächste Runde geht an McLean, und zuletzt übernimmt Tolliver, hinter dem McLean zweite Stimme spielt. Die zwölftaktige Form ist übrigens kein Blues und McLeans Solo so intensiv wie er es eben mochte – Alfred Lions Schielen nach der Jukebox hatte hier wenig Wirkung. Higgins treibt McLean heftig an, der bricht aus in Falsett-Schreie. Tolliver und Hutcherson folgen, und schliesslich kriegt auch Cecil McBee nach zwei Sessions mit exzellentem Bass-Spiel noch sein Solo – und nutzt die Chance zu einem ebenso exzellenten Beitrag, der schliesslich wieder in die Aufsichtung des Themas mündet. Ein gelungener Abschluss eines Albums, das nicht die Höhe seines Openers halten kann, doch dieser erklimmt Höhen, die selten nur erreicht werden!

Hier das Cover der phantastischen Mosaic-Box:

Weiter geht es hoffentlich bereits morgen mit 1965 (2/3), spätestens am Freitag sollte der Abschluss mit 1966 (3/3) möglich sein. Was ich jetzt schon sagen kann: das ist tolle Musik, auch die weniger experimentellen Sessions – und das intensive Hören zahlt sich aus!

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