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Ich renne hier mal offene Türen ein. In den letzten Wochen habe ich – angeregt von gypsys schöner Dave Brubeck-Sendung – die 4 CD-Box
Dave Brubeck – Time Signatures – A Career Retrospective (1946-1991)
das eine oder andere mal komplett durchgehört. Ich will nicht behaupten, dass ich die dort enthaltenen 59 Stücke und mehr als 4 Stunden Musik aus 45 Jahren damit verdaut habe. Das ist sehr viel Holz, das erst mal weggehört werden will und angesichts der Fülle und Vielfalt von Material es ist schwierig darüber zu schreiben.
Time Signatures ist ein chronologisch aufgebauter Querschnitt durch Dave Brubecks Werk von 1946 bis 1991, angefangen mit den bewegten frühen Zeiten, in denen er in wechslenden Besetzungen spielte, im Oktet, mit Cal Tjader an den drums oder vibes, dann hört man wie sich das klassische Quartett mit Paul Desmond herauskristallisiert, der Höhepunkt mit Time Out, Aufnahmen mit Jimmy Rushing, Carmen McCrae, Leonard Bernstein, ein Musical mit Louis Armstrong und Lambert Hendrick & Ross, ein spektakuläres Duo mit Charles Mingus und dann das Spätwerk in wiederum wechselnden Besetzung, mit drei seiner Söhne, mit Gerry Mulligan und anderen.
Natürlich sind die Gassenhauer wie Take Five vertreten, aber die eigentlichen Höhepunkte dieser Box sind solch kleine Perlen wie die ganz frühen Aufnahmen, die bezaubernde Live-Aufnahme von Over The Rainbow, die ja eigentlich misslungen ist, da irgendwie bass und drums nicht mit aufgenommen wurden, das Duo mit Mingus, die Upstage Rumba, auf der Teo Macero Clavés spielt, Live-Aufnahmen wie der Koto Song von 1966, der sich in der Mitte aufzulösen scheint und wo Brubeck wie in einer Traumsequenz zu improvisieren beginnt oder die Stücke mit Gerry Mulligan von 1968. Um das alles auf einzelnen Alben zusammenzukaufen muss eine alte Frau lange stricken.
Man kann auf diesen 4 CDs Brubecks Entwicklung schön nachvollziehen. Der klassische Hintergrund ist fast immer irgendwie zu hören, ein Grundthema ist das Experiment mit ungewöhnlichen Rhythmen und Metren und dazu kommt Brubecks Drang, Musik aus anderen Kontexten zu integrieren, seien es Rhythmen oder Harmonien, die er auf seinen Auslandsreisen in Mexiko, der Türkei oder Japan aufgeschnappt hat oder das Spiel mit Blues, Walzern oder Tänzen unterschiedlichster Provenienz. Oder in Brubecks eigenen Worten: „You know, Milhaud told me to travel the world, and keep my ears open.“
Ich möchte hier noch mal eine Lanze für die Partnerschaft Brubeck – Desmond brechen: Die beiden habe sich schon idealtypisch ergänzt. Brubeck, der eher sachliche Konstrukteur von raffinierten Kompositionen mit seinem kantigen Klavierspiel einerseits, der Gefühlsmensch Paul Desmond mit seinem unwiderstehlich charmanten melodischen Ton andererseits.
Die Box enthält außerdem ein 100-seitiges (!) Booklet mit kurzen Kommentaren von Brubeck zu jedem Stück und einen längeren Essay / eine Biographie, die ich aber noch nicht vollständig gelesen habe. Leider ist die Box gegenwärtig out of print, meines Wissens durch nichts vergleichbares ersetzt worden und nur noch gebraucht oder digital erhältlich. Empfehlenswert ist sie auf jeden Fall!
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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)