Re: Berlinale 2011 – 10. bis 20. Februar

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witek-dlugosz

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“Tschuldigung, bin kurz eingenickt, was hab ich verpasst?“
“Nüschte, er is immer noch mit sein Pferd im Sturm unterwegs.“
“Wie lange habe ich denn geschlafen?“
“Keene Ahnung, Viertelstunde?“

“Mist, ich hätte echt Kaffee mitbringen sollen. Was war jetzt?“
“Nächster Tach, Tochter hat Vatti bein Anziehn jeholfen und Wasser ausn Brunnen jeholt.“
“Ist es draußen immer noch so stürmisch?
“Ditt hörste doch.“
“Stimmt. Ah, und jetzt Mittagessen. Er hat keinen Hunger oder was?“
“Is schon fertig. Hat mit eener Hand die Schale vonne Kartoffel jerupft, druffjehaun und sich die heißen Brocken grunzend rinjeschoben.“
“Wozu die Eile? Er hat doch eh nichts zu tun den ganzen Tag.“
“Tja, da fragste watt.“

“Was sollte das nun mit dem Nachbarn und seiner apokalyptischen Ansprache? Hätte der sich nicht auch einfach so den Schnaps borgen können und den Mund halten wie die anderen beiden?
“Watt? Wie? Oh, jetz bin wohl zur Abwechslung icke ma kurz abjetaucht. Watt war?“
“Ach, egal.“

“Bei welchem Tag sind wir jetzt?“
“Vierter, gloob ick.“
“Was macht eigentlich das Pferd?“
“Vatti war gerade bei ihn im Stall. Et frisst nicht.“
“Wieso?“
“Da musste ditt Pferd frahng.“

“Tschuldigung, ich bin wohl wieder… Ist vorbei jetzt?“
“Nee.“
“Und wieso ist dann die Leinwand schwarz?“
“War oof eima dunkel.“
“Wieso das?“
“Ditt hat Tochter ooch jefragt: Watt ditt Janze eijnklich is.“
“Und?“
“Weeß er ooch nich, sacht er.“
“Aha. Welcher Tag?“
“Sechster.“
“Na dann.“
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Zugegeben: Diese Dialoge sind reine Erfindung. Aber unrealistisch sind sie nicht. Ein Teil des Publikums reagierte mit verzweifeltem Unverständnis auf die extreme Langsamkeit und Ereignisarmut von Tarrs Film: Jedes Mal, wenn ein Zwischentitel den Beginn eines weiteren Tages ankündigte, ging ein Stöhnen durch den Saal. Immer wieder, selbst zehn Minuten vor Ende des Films, verließen Zuschauer den Saal.

Was sie verpasst haben? Nicht weniger als ein großes Meisterwerk. Den (auch wenn noch zwölf Filme vor mir liegen, kann ich das mit Gewissheit sagen) besten Film, den ich auf der Berlinale gesehen habe.

Die Ausgangsgeschichte, eine bekannte Anekdote aus der Philosophiegeschichte, wird zu Beginn aus dem Off erzählt: Friedrich Nietzsche sah, wie ein Kutscher sein Pferd misshandelte, warf sich dem Tier um den Hals und verschwand danach für den Rest seines Lebens in geistiger Umnachtung. Der Film setzt in direktem Anschluss an die Episode mit Nietzsche ein.

Béla Tarr zeigt (in einer Art umgedrehten Schöpfungsgeschichte) sechs Tage im Leben des Kutschers, seiner Tochter und des Pferdes. Draußen peitscht unerbittlich ein Sturm, in der einsam gelegenen Hütte des Mannes passiert derweil größtenteils nichts. Anziehen, Wasser holen, Kartoffeln essen, aus dem Fenster schauen, Schnaps trinken, nach dem Pferd sehen, aus dem Fenster schauen – das ist im Grunde alles, was die Tage der beiden ausfüllt. Zweimal dringen andere Menschen in die Welt der beiden ein. Einmal ist es ein Nachbar, dem der Schnaps ausgegangen ist und der einen Monolog über das Ende der Welt hält. Ein anderes Mal ist es eine Gruppe von Zigeunern, die sich aus dem Brunnen bedienen und dann vertrieben werden.

Das Pferd will nicht mehr essen, auch der Vater verliert den Appetit, der Brunnen versiegt, ein eiliger Aufbruch führt Kutscher, Tochter und Pferd nach kurzer Zeit zurück in die Hütte. Der Sturm ebbt ab, das Feuer erlischt, das Licht verschwindet, die Welt ist am Ende.

Tarr zeigt diese apokalyptische Geschichte, oder vielmehr diesen Rumpf einer apokalyptischen Geschichte in extrem langen Einstellungen in klarem Schwarz-Weiß. Die Kamera bleibt dabei in Bewegung, auch wenn es teilweise nur minimale Bewegungen sind. Vater und Tochter sprechen nur hin und wieder das Allernötigste miteinander. Ansonsten hört man nur das Pfeifen des Sturms und die düstere Musik von Gábor Téni, die aus nur einem, von Geigen und Orgel gespieltem Motiv besteht, das sich durch den gesamten Film fräst und in dem sich der schleichende Untergang ankündigt.

Tarr hat, obwohl er erst 55 Jahre alt ist, angekündigt, dass „A Torinói ló“ sein letzter Film ist. Auch wenn ich seine anderen Filme nur vom Hörensagen kenne: Einen imposanteren und in seiner radikalen Konsequenz ergreifenderen Schlusspunkt hätte er wohl kaum finden können: Die Entschleunigung wird auf ihren Höhepunkt getrieben und mündet im großen schwarzen Nichts. Möge Tarr dorthin bitte den Goldenen Bären mitnehmen!

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