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Eine Kinderhand im Fahrtwind, Sonne fällt durchs Laub. Ein ungefähr elfjähriges Kind sitzt neben seinem Vater auf dem Beifahrersitz. Das Verdeck ist hochgeklappt. Sie fahren eine Landstraße entlang. Später darf das Kind mit Hilfe des Vaters selbst ein Stück fahren. Die beiden wechseln ein paar Worte, tauschen selbstverständliche Gesten der Nähe aus, wie es sie nur zwischen Eltern und ihren Kindern gibt. Ruhe und Geborgenheit prägen den Einstieg in den Film.
Das Kind trägt kurze Haare kleidet sich wie ein Junge, gibt sich maskulin – ist aber (was der Zuschauer erst einige Zeit nach Beginn des Films in einer Szene in der Badewanne erfährt) ein Mädchen, ein „Tomboy“. Laure ist gerade mit ihrem Vater, ihrer hochschwangeren Mutter und ihrer kleinen Schwester Jeanne in eine neue Stadt gezogen, in einigen Wochen beginnt nach den Sommerferien ein neues Schuljahr. Sie erkundet die Umgebung und trifft auf Lisa, ein Mädchen in ihrem Alter. Laure gibt sich als Junge aus, Mikaël – und setzt nun alles daran, diesen Schein vor Lisa und ihren Freunden zu wahren: Sie prüft vor dem Spiegel, ob ihr Oberkörper maskulin genug ist. Sie stutzt ihren Badeanzug auf eine Badehose zurecht, in die sie vor dem Baden eine Penis-Attrappe aus Knete steckt. Sie spielt mit den Jungs Fußball. Sie prügelt sich. Und sie verliebt sich in Lisa, die sich wiederum in Mikaël verliebt.
Ihr Geheimnis bleibt nicht unentdeckt. Die kleine Schwester Jeanne ist die erste, die herausfindet, dass Laure ihre neuen Freunde belügt. Und hier zeigt sich eine der größten Schwächen des Films: So behutsam Laure/Mikaël gezeichnet ist, so unglaubwürdig kommt die Figur der Schwester herüber. Zweifellos ist Jeanne, die im Film für den comic relief zuständig ist, ein putziges Kind. Aber wie schnell und problemlos sie das falsche Spiel ihrer großen Schwester durchschaut und sich darin einrichtet, nimmt man einer Sechsjährigen nicht ab.
Nach Jeanne finden auch die Mutter (die überaus unerbittlich reagiert), die Freunde und natürlich Lisa die Wahrheit über den vermeintlichen Mikaël heraus. Laure tritt ihren schmerzhaften Gang nach Canossa an und bekommt am Ende ein halbwegs offenes Happy End geschenkt.
„Tomboy“ ist unspektakulär inszeniert. Die Kamera ist immer nah an der Hauptfigur, ohne ihr zu eng auf den Leib zu rücken. Sciamma nimmt sich Zeit für ihre Geschichte, verzichtet (vom Abspann abgesehen) auf Musik, zeigt ihr großes Talent im Umgang mit Kinderdarstellern – und hat doch nur einen mittelprächtigen Film gedreht. Zu nett löst sich die Geschichte auf. Zu altbacken wird am Ende die zuvor differenziert aufgeworfene Frage nach Geschlecht und Gender mit dem eindeutigen Bekenntnis zum biologischen Geschlecht beantwortet.
Das extrem lachwillige Publikum applaudierte sehr freundlich, Sciamma sprach ein paar Allgemeinplätze und vorbei war mein Einstieg in die Berlinale 2011. Er hätte weiß Gott schlechter ausfallen können.
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