Re: Albert Ayler

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Hymnes, sonneries, hurlements, marches et comptines, couinements, pleurs (d’enfants apeurés), prêches, ritourrnelles, et bien d’autres choses encore, il y a tout cela dans les enregistrements d’Albert Ayler

~ P.C. [Philippe Carles?], Jazz Magazine No. 135 – October, 1966, p.55

Das Schlüsseljahr für Ayler war 1964. So viele Aufnahmen wie in diesem geschäftigen Jahr würde er nie mehr machen – und was für Aufnahmen!

Im Februar entstanden in einer Session die beiden Alben „Goin‘ Home“ und „Witches & Devils“, die beide Seiten von Ayler zeigen: die spirituelle und die drängende, wilde, aufbrechende.
Auf Goin‘ Home spielt er über Call Cobbs‘ groovendes Gospel-Piano (Cobbs war 1954 zur selben Zeit wie Coltrane kurz Mitglied von Johnny Hodges‘ Band), Sunny Murrays seltsam verschrobene Swing-Rhythmen und Henry Grimes‘ grossartigen Bass fast ohne zu improvisieren verschiedene Traditionals wie das Titelstück, „When the Saints Go Marchin‘ In“, „Down By the Riverside“, „Deep River“, „Nobody Knows the Trouble I’ve Seen“, „Ol‘ Man River“ oder „Swing Low, Sweet Chariot“. Die Einfachkeit der Musik, die Art und Weise, wie Ayler die Melodien schmückt, umspielt, mit Vibrato und Dehnungen und Biegungen des Tones, wie er das alles mit grosser Ernsthaftigkeit tut – gestern hat mich das beim Wiederhören fast umgehauen! Nachdem ich das Album schon seit vielen Jahren kannte aber nie einen direkten Zugang dazu gefunden hatte… werde es wohl in den kommenden Tagen noch einige Male hören!
Witches & Devils besteht aus vier Originals, der Trompeter Norman Howard ersetzt Cobbs, Bassist Earle Henderson macht die Gruppe auf dem Titelstück zum Quintett und ersetzt Grimes auf „Holy, Holy“. Die anderen Stücke heissen „Spirits“ und „Saints“ – die Stossrichtung ist also eine durchaus ähnliche wie auf den Spirituals und Traditionals, aber musikalisch ist das alles ungleich dichter und drängender.

Im Trio mit Gary Peacock und Murray wurde Ayler dann im Juni live aufgenommen. Das Resultat war zunächst das Album Prophecy, ein zweites Album erschien später als „Albert Smiles with Sunny“ – diese Hälfte ist heute auch in der „Holy Ghost“ Box zu finden. Die Aufnahmen sind grossartig und präsentieren bereits das klassische Trio, das im Juli „Spiritual Unity“, Aylers wohl grossartigstes Album, einspielen sollte.
Ben Young stellt im Session-Kommentar (im Buch der „Holy Ghost“ Box) ein paar seltsame Überlegungen an zur Debatte (anscheinend gab’s die wirklich mal) über Ayler und die Relativität:

One of the early criticisms of Ayler’s 1964 triumphs was that he seemed to only be communicating „action“ (energy), or pure gesture, in which pitch (mass, let’s say) is arbitrary or negligible. For many listeners coming from bebop, this equated to not communicating at all. […]

In both 1970 interviews (on Disc 8/Track 11 and Disc 9/Track 20) Ayler hints at an e=mc2 in reference to his early practice method of telescoping a scale into a single fluid motion. With this in mind, an entire frontier in Ayler’s music opens to the examination of whether a note that seems to wander drunkenly in pitch is actually a phrase of several implied notes jammed into one split-second sound, and even whether his slow vibrato is actually the blurry slur of a very fast trill. The glorious stalemate at the end of this discussion is that we’ll never know exactly, and that finding an „answer“ isn’t nearly as important as making the investigation. Three of these Cellar performances, „Ghosts“, „Saints“, and „The Wizard“ offer particularly fertile soil for the study.

~ Ben Young, The Sessions, Liner Notes zu: Albert Ayler, „Holy Ghost: Rare & Unissued Recordings (1962-70), Revenant, ca. 2004, S. 142f.

Young meint dann, dass diese Version von „Ghosts“ nicht nur die erste sei, sondern möglicherweise das beste Solo Aylers über dieses Stück enthalte – also besser als die beiden grossartigen Versionen, die „Spiritual Unity“ umrahmen. Das Stück sei eins der wenigen Ayler-Originals, das aus mehr als einem blossen Motiv bestehe. „Ghosts“ besteht aus drei Theme: „loosely, a four-bar introduction, four-bar A section, and a four-bar B section, usually returning to an indefinite number of repetitions on the A before Ayler transmutes it ino his solo.“ (Young, siehe oben, S. 143).

Am 10. Juli um ein Uhr mittags fand die erste Studio Session von Bernard Stollmans ESP-Disk‘ Label statt (benannt nach Esperanto – Stollman unterstützte die Esperanto-Bewegung, auf den ESP-Disk‘ Alben solte auch der Spruch „Ni Kantu En Esperanto“ auftauchen, „Lasst uns in Esperanto singen).
Spiritual Unity wurde in gloriosem Mono aufgezeichnet, die Balance zwischen Murrays freien Rhythmen, Peacocks lyrischem, enorm agilen Bass und Aylers reichem Tenor ist perfekt gelungen. Zwei Takes von „Ghost“ umrahmen „The Wizard“ und „Spirits“ – der Spuk dauert nur etwa 29 Minuten, aber das in Perfektion! Mit diesem grossartigen Album hat Ayler sich als zentrale Figur der Avantgarde etabliert, die Musik hat – wie nail im Eingangspost festhält – bis heute absolute Gültigkeit und ist ebenso bis heute absolut Einzigartig, in ihrer Mischung aus Statik, Sanglichkeit, Dichte und ihrem mitreissenden Drive.

Eine zweite, längere (7:44 oder 7:45) Version von „Spirits“ fand sich auf den frühesten Pressungen von „Spiritual Unity“. Es handelt sich dabei jedoch nicht um einen Alternate Take sondern um eine völlig andere Komposition – ziemlich verwirrend: Das Stück ist dasselbe wie „Vibrations“ auf dem Album „Ghosts“ und „The Copenhagen Tapes“. Die Version, die auf dem Album zu hören ist, ist auf „Witches & Devils“ und den „Copenhagen Tapes“ als „Saints“ enthalten…

Weitere Informationen zur Session sind hier zusammengetragen.
Dort gibt’s zudem auch ein Booklet, das Paul Haines zum Album erstellt hat, muss ich nachher mal lesen, hab ich grad erst entdeckt! Lag das dem Album bei?

B.’s comments

Michael Snow, the Toronto based film maker, pianist, catalyst for free improvisational performers everywhere, painter, sculptor, record producer and the pride of Canada, used the image of pianist-composer Carla Bley as the inspiration for an art film, ‚New York Eye & Ear Control‘.
For his sound track, he assembled a group of ESP artists in his loft and recorded them on July 17, 1964.

~ Bernard Stollmans Kommentar im Booklet zu: New York Eye and Ear Control, ESP CD 1016, Calibre, 2000

Das Album besteht aus einem Miniatur-Intro und zwei seitenlangen Jams. John Tchicai machte schon in Dänemark 1962 mit Ayler Bekannstschaft, Don Cherry stiess zu Aylers Trio und ging kurz nach dieser Session mit ihnen auf Europa-Tournee, Roswell Rudd ist mir immer herzlich willkommen.
Laut der Ayler Website wurde übrigens bei Paul Haines in NYC aufgenommen, nicht bei Michael Snow, das Buch von „Holy Ghost“ hält sich aber an Stollmans Angaben (S. 199 „July 17, 1964 – Loft of Mike Snow: NYC“)
Die Musik ist verglichen mit den Trio-Aufnahmen eher enttäuschend – unstrukturiert und wenig zwingend. Es gibt allerdings sehr schöne Momente, in denen das Stimmengeflecht der vier Bläser und Peacocks Bass sehr dicht gewoben ist, Momente, in denen die Bläser Ideen voneinander aufgreifen, und auch Momente des Ausbruches von allen. Tchicai gefällt jedenfalls mit einem schlanken, singenden Ton.

Anfang September ging Ayler dann mit dem Trio (Gary Peacock und Sunny Murray) sowie Don Cherry auf Europa-Tournee. Aufnahmen entstanden in Kopenhagen und in Hilversum. Ben Young zu den Aufnahmen vom 3. September 1964:

Don Cherry was the only horn player in an Ayler group who could even think about tangling with the leader on a compatible plane of imagination and acuity. Increasingly conscious of wanting to be the center of attention in his own band, Ayler must have felt at least slightly challenged by Cherry’s presence, but appreciated being driven and stimulated by the other horn. Never was their interplay more electrifying than on this true live recording, a night at the Café Montmartre, on which, thankfully, they do tangle.

~ Ben Young, The Sessions, Liner Notes zu: Albert Ayler, „Holy Ghost: Rare & Unissued Recordings (1962-70), Revenant, ca. 2004, S. 144f.

Die Radio-Aufnahmen aus Kopenhagen am 3. September im Jazzhus Montmartre und am 10. September im Studio des Dänischen Rundfunks erschienen zuerst 2002 auf dem kleinen Ayler Records Label als „The Copenhagen Tapes“. Die längere Session aus dem Montmartre ist auch in „Holy Ghost“ zu finden.
Am 14. September nahm die Gruppe ebenfalls in Copenhagen das Album Ghosts (aka Vibrations) auf. Nach Stationen in Holbaek, Stockholm und wieder dem Montmartre spielte die Gruppe in Holland (Amsterdam, Rotterdam, Bergen), wo in Hilversum im VARA Studio des Rundfunks noch ein Album enstand, das als „The Hilversum Session“ veröffentlicht wurde und für mich das Highlight der Ayler/Cherry-Aufnahmen darstellt – oder das Highlight neben der Montmartre Session von ganz zu Beginn der Tour. Die Tour schien wieder in Skandinavien geendet zu haben – in der „Holy Ghost“ Box findet sich ein Interview, das Ayler für „Afterbeat“ ca. Anfang Dezember 1964 in Kopenhagen gegeben hat.

Der Grossteil von The Copenhagen Tapes enstand also wie erwähnt anlässlich eines Live-Mitschnittes im legendären Jazzhus Montmartre. Die Stücke, die gespielt werden, sind stets dieselben: „Spirits“, „Saints“ und „Vibrations“ tauchen auf beiden Sessions auf der Ayler Records CD auf, das letztgenannte auch auf dem Album Ghosts, auf dem das Titelstück gleich zweimal zu hören ist, zuerst als kurzes Thema, dann später in einer längeren Version. Die Stücke „Children“ und „Mothers“ wurden sowohl im Montmartre wie auch für die Album-Session eingespielt. Das Album enthält überdies das Stück „Holy Spirit“.
Reviews zu den Copenhagen Tapes finden sich auf der Ayler Records Website. Auf der Ayler Website finden sich zudem diverse Rezensionen zu „Ghosts“.

Auf der Hilversum Session sind erneut „Ghosts“ und „Spirit“ zu hören, dazu aber auch „Angels“, das im kommenden Jahr auf dem ESP-Disk‘ Album „Spirits Rejoice“ wieder auftauchte, sowie „C.A.C.“, „Infant Happiness“ und zum Abschluss „No Name“. Die Session wurde vor einem kleinen geladenen Publikum mitgeschnitten, produziert haben Michiel de Ruyter und Aad Bos für VARA-Radio, das Album hat dann George Coppens produziert (die neuste Auflage ist auf ESP-Disk‘ zu finden, ich hab die Coppens-CD CCD 6001).
Sunny Murrays Spiel wird stehts eindrücklicher, von feinstem Geklöppel bis zum lauten, aggressiven Spiel, für das er manchmal verschriien wird – die Bandbreite ist eindrücklich! Cherrys zweite Stimme windet sich um Aylers Tenor, verschmilzt mit ihm, umgarnt ihn, bietet einen ruhenden Gegenpol, der urplötzlich ausbrechen kann, zum Gegenspiel wird, Ideen aufgreift, neue einwirft. Darunter stets Peacocks Bass, der den hörenden, sensiblen Begleiter zeigt, der Peacock schon damals war. Aylers Solo auf „Spirits“ ist absolut eindrücklich, wie er den Ton spaltet, ins Falsett geht und zugleich im tiefen Register honkt!
Zwei Reviews zur Hilversum Session finden sich auf der Ayler Seite.

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