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Ich bin begeistert von diesem Album (hatte ich nicht erwartet). Es ist kein zweites „White Chalk“, also kein Werk, das für mich persönlich sonderlich bedeutsam wäre, doch es ist ein unglaublich beeindruckendes und anregendes Album geworden. Auf wie vielen Ebenen PJ Harvey erfolgreich experimentiert hat, lässt mir den Schnabel offen stehen: Sie hat eine komplett neue Gesangstechnik für sich erdacht, ihr Songwriting um ganz neue Elemente erweitert (ich dachte immer, so was geht gar nicht), ihren Lyrics einen Schubs ins Konkrete verpasst, ein paar neue Instrumente gelernt, sie baut Songs anders auf, z.B. mit langen Intros, sie lässt sich von Mick Harvey und John Parish stimmlich unterstützen und lässt insgesamt viel Luft für Fremdes, sie arbeitet mit Samples etc. Von ihren neuen Outfits mal ganz zu schweigen. Reee-spekt.
„Let England Shake“ wirkt auf mich bei allem Experiment sehr abgeklärt und reif. Pollys Zeiten als Wüterin scheinen lange vorbei, die Perspektive scheint nun die der Beobachterin zu sein, die zwischen Bitterkeit und Menschenliebe schwankt, kein ganz origineller Standpunkt, aber in Pollys musikalischer Umsetzung einzigartig. Es gibt diese sehr eingängigen, fast schon gefälligen Melodien und zuweilen groovenden Rhythmen und daneben oder unter der Oberfläche unzählige Irritationsmomente, Brüche, Rhythmuswechsel, eine seltsam gedeckelte Gitarre. Auch singt Polly hier oft bewusst etwas waghalsig. Auf „White Chalk“ hat sie ihre Stimme in die Höhe getrieben, ohne dabei an Wohlklang zu verlieren. Hier höre ich an zig Stellen Bröckeligkeit, bewusste Nachlässigkeit, Quäkendes, sie klingt irgendwie beschädigt, und da sie eine absolut souveräne Sängerin ist, wird das mit Absicht so sein (vergleicht mal den Anfang von „On Battleship Hill“ mit „The Devil“, das sind riesige Unterschiede). Dazu passt hervorragend die Idee, ihre männlichen Mitsänger öfter mal quasi als ruhige Erzählerstimmen unter ihren Gesang zu legen, das hebt zum einen das Exzentrische hervor, sorgt aber zum anderen für Erdung (Mick Harvey ist quasi der Hans Paetsch dieses Albums). Es ist alles schon Geschichte.
Ihre englische Kriegs-/Kolonialgeschichte mit musikalischen Fremdwörtern anzureichern, war auch eine gute Idee (ich habe das kurdische „Kassem Miro“ zwar erst für eine rückwärtssingende Polly gehalten, aber was solls, die Richtung stimmte). Vieles davon fügt sich ganz organisch in PJ Harveys Musik ein, da sie z.B. immer schon mit ungewöhnlichen Rhythmen und Harmonien gearbeitet hat.
Besonders interessant fand ich das Saxophon auf diesem Album, das Polly hörbar noch nicht lange spielt. Sie hat es fast geschafft, mich mit diesem Instrument zu versöhnen… Ich habe von dieser Musikerin eigentlich immer gedacht, dass sie nur das an die Öffentlichkeit gelangen lässt, was absolut perfekt ist, doch das scheint ein Irrtum zu sein (bzw. gehört das Unperfekte eben zum gelungenen Kunstwerk). Das Saxophon klingt (z.B. auf „The Last Living Rose“) so ungelenk, dass es mich anrührt, es fügt der seltsamen Mischung aus Schönheit und Bröckeligkeit noch einen Aspekt von, hm, Unabgeklärtheit hinzu.
Meine Highlights: The Glorious Land, All And Everyone, On Battleship Hill, England, Bitter Branches, äh, und noch einige andere Großes Album, das.
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the pulse of the snow was the pulse of diamonds and you wear it in your hair like a constellation