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Shorty Rogers wurde übrigens als Milton Michael Rajonski in Lee, Mass. geboren. Sein Vater Abraham stammte aus Bessarabien (dem Landstrich zwischen Pruth und Dnjestr, der heute zur Ukraine, Moldavien und dem Verbrecherstaat*) Transnistrien gehört. Rogers‘ Mutter Anna Sevitsky kam aus Pinsk (im Süden des heutigen Weissrussland gelegen). Der junge Milton Rajonsky sass oft im Schneiderladen seines Vaters herum. Als er fünf Jahre alt war, brachte ein Angestellter seines Vaters ihm ein Kornett mit. Milton spielte in den folgenden Jahren in verschiedenen drum and bugle corps.
Zum Jazz fand er über Benny Goodman-Platten, die seine Schwester Eve hörte. Er hörte sich Soli von Bunny Bergian und Harry Edison an und kopierte diese, phonetisch gewissermassen, als Autodidakt. Später besuchte er eine die High School of Music and Art, die er 1942 abschloss und sofort mit Will Bradleys Band loszog. Schon damals lernte er Shelly Manne kennen – eine Freundschaft, die 42 Jahre dauern sollte.
Nach Bradley folgte ein Engagement bei Red Norvo. Rogers‘ Schwester Eve wurde in den 40ern übrigens zu Norvos Ehefrau (nachdem dieser sich endgültig von Mildred Bailey befreit hatte). Bis Mai 1943 spielte Rogers mit Norvo, dann folgte die Armee bis 1945 und während eines Urlaubs seine ersten Platten-Sessions mit Cozy Coles Septett für Keynote (2. Februar) und am 9. Juni dann die Aufnahme eines Konzerts in der Town Hall mit Norvo (Commodore).
Nach der Entlassung aus der Armee im September 1945 fand Rogers einen Platz in Woody Hermans first herd, als Ersatz für Conte Candoli, der in die Armee musste. Neben ihm bestand das Trompetenregister aus Sonny Berman, Neal Hefti, Irv Lewis und Pete Candoli. Auch Red Norvo war in der Band, und Shorty steuerte bald erste Arrangements und Kompositionen bei, darunger „Igor“ und „Nero’s Conception“ (erstgenanntes öffnet die JSP-Box). Daneben nahm er im Januar 1946 mit Kai Winding für Savoy und mit Benny Carters Big Band für Deluxe auf und arrangierte vier Stücke für Bill Harris‘ Dial-Session vom 21. September 1946.
Im Dezember löste Herman seine herd auf, Rogers ging für sieben Monate zu Charlie Barnet, es existieren aber keine Solos oder Arrangements von ihm aus dieser Zeit. Im Sommer wechselte er zu Butch Stone, einem Novelty-Sänger. In dessen Band traf er Herbie Steward und Stan Getz – die paar Aufnahmen der Gruppe kenne ich nicht, aber es gibt auf „Hey Sister Lucy“ ein Rogers-Solo zu hören.
1947 hatten sich Rogers und seine Frau Marge in Los Angeles niedergelassen und beschlossen, ihren Namen zu amerikanisieren. Sie hiessen jetzt offiziell Rogers. Im Herbst gründete Woody Herman wieder eine Band – die erstaunliche, vom Bebop geprägte second herd – und Rogers war einer der fünf Musikern, die aus der alten Band übernommen wurden. Er blieb die ganze Zeit, in der diese Gruppe existierte, dabei, vom Oktober 1947 bis zum Dezember 1949. Er schrieb viele Kompositionen und Arrangements, teilweise gemeinsam mit Ralph Burns und Terry Gibbs, darunter „Keen and Peachy“, „Lemon Drop“, „Keeper of the Flame“, „More Moon“,“Lollipop“ und andere (die genannten sind alle auf Rogers‘ JSP-Set nachzuhören). In dieser Zeit arrangierte Rogers auch weiterhin für andere Musiker, etwa Benny Goodman (die Combo mit Wardell Gray und Stan Hasselgard), Serge Chaloff und Terry Gibbs (auf der New Jazz Session von Gibbs spielte er auch mit).
Im Dezember, nachdem Herman seine Band auflöste, ging Rogers zu Stan Kenton, der grad im Begriff war, sein Innovations in Modern Music Orchestra zu gründen, das 1950-51 für Capitol eine Reihe bahnbrechender Aufnahmen machte. Rogers traf da nicht nur wieder auf Shelly Manne sondern auch auf Musiker wie Bud Shank, Art Pepper, Bob Cooper, Bill Russo und Milt Bernhart. Auch hier steuerte er einige Arrangements und Kompositionen bei, darunter „Jolly Rogers“, „Round Robin“, „Viva Prado“, „Art Pepper“, „Coop’s Solo“, „Jambo“, „Sambo“, „Nice Work If You Can Get It“ und andere (die ersten vier genannten sind in der JSP-Box zu hören). Er arrangierte ebenfalls eine Session für June Christy (darüber hab ich oben schon kurz geschrieben) und war an einer Maynard Ferguson-Session beteiligt („Short Wave“ ist daraus auf der JSP-Box zu hören).
Soweit zur Vorgeschichte… aber jetzt rasch vorwärts ins Frühjahr 1955.
Am 1. und 3. März 1955 stand Shorty Rogers zum ersten Mal im Studio für sein neues Label Atlantic, mit dem er einen Jahresvertrag abgeschlossen hat. Wie schon erwähnt fanden die ersten Aufnahmen mit der working group statt: Shorty Rogers (t), Jimmy Giuffre (ts,bari,cl), Pete Jolly (p), Curtis Counce (b), Shelly Manne (d).
Todd Selbert beschreibt die Musik des Quintetts sehr kurz und treffend in seinen Liner Notes zu „The Complete Atlantic and EMI Jazz Recordings of Shorty Rogers“:
Those with ears should come away with the realization that this was one cooking little quintet, with Shorty’s originals, reworking of standards […], and playing, the interplay of Rogers and Giuffre, Giuffre’s gritty tenor and lusty baritone solos and his unique chalumeau register playing on clarinet, Jolly’s romping solos and solid comping, Counce’s strong backbone, and Manne’s excquisite all-around drumming.
Manne ist schon in „Isn’t It Romantic“ sehr präsent, wie immer, und begleitet Rogers‘ spannendes Solo engagiert und enorm musikalisch. Rogers selbst glänzt mit Ideen und Linien, wie üblich zumeist im mittleren Register, aber mittlerweile mit mehr smears und squeezed notes, was seinem Spiel in Sachen Expressivität zusätzlichen Schub gibt. Giuffre spielt hier Barisax. Auf „Not Really the Blues“ von Johnny Mandel ist Giuffre dann am Tenor zu hören. Das Stück ist überschwänglich, schnell, zupackend – Giuffre spielt etwas verhalten (er war ja ein ganz guter honker, was hier nicht so sehr zum Tragen kommt, wie das beim Thema zu erwarten gewesen wäre) aber konzentriert. „Martians Come Back“ ist ein ruhiges Stück mit viel stop and go. Manne glänzt mit seinem feinen Getrommel (teils von Hand gespielt?) und Giuffres Klarinette ist der Star – sein Sound hat so viel Soul, sein Ton ist luftig und doch rund, sehr weich und hier wirklich immer im tiefen (chalumeau) Register der Klarinette. Rogers und Jolly begleiten hie und da mit ein paar kurzen Einwürfen, später folgt dann ein Trompetensolo mit Dämpfer und auch wieder mit stop time – allerdings begleitet Jolly jetzt durchgängig, für seine Verhältnisse aber äusserst sparsam. Es folgt dann eine Art Rhythmusgruppen-Solo mit Einwürfen von Jolly, starkem walking bass von Counce und Mannes melodischem Getrommel. Ein wunderbares Stück!
In derselben Session entstanden swingende Einspielungen von Rodgers-Harts „My Heat Stood Still“ und Bernie Millers „Loaded“ (beide mit guten Rogers-Soli), den beiden Rogers-Originals „Oh Play That Thing“ (mit Basie-Anklängen, auch im Spiel von Jolly und einem weiteren tollen Klarinettensolo von Giuffre und mehr Rogers mit Dämpfer) und „Bill“ sowie dem „Twelth Street Rag“ (Bowman-Razaf) und „Lady in Red“ (Wrubel-Dixon).
In der zweiten Session vom 3. März entstanden vier weitere Stücke, alle von Rogers: „Trickleydidlier“, „Solarization“, „That’s What I’m Talkin‘ ‚Bout“ und „Michele’s Meditations“.
Einige dieser Stücke fanden nicht auf Rogers‘ erstem Atlantic-Album The Swinging Mr. Rogers Platz und erschienen später auf Way Up There (Solarization) und Martians Stay Home (Loaded, Bill, Twelth Street Rag, The Lady in Red).
Pete Jolly war der Neuzugang, ein junger Pianist, der erst kürzlich nach Los Angeles gekommen war und Russ Freeman ablöste, der mit Chet Baker loszog (das Quartett war Bakers erste richtige working band soweit ich weiss, sie machten für Pacific Jazz eine lange Reihe schöner Aufnahmen). Marty Paich war zwischenzeitlich mal Pianist der Rogers-Gruppe, aber auch er war drauf und dran, seine Karriere richtig zu starten, und daher bald wieder weg. Jolly hiess eigentlich Peter Ceragioli, Rogers hatte 1952 mal im Lighthouse mit ihm gespielt, als Gitarrist Howard Roberts ihn dorthin mitgenommen hatte. Jollys spielt Bebop, mit guter Technik und exzellentem Rhythmusgefühl – das besondere an seinem Pianospiel ist allerdings der klare und grosse Sound, den er produziert. Die oben erwähnte Session für’s „East Coast – West Coast Scene“ Album war Jollys erste mit Rogers und führte zu einem RCA-Vertrag. Am 4. März, also am Tag nach der zweiten Atlantic-Session mit Rogers, nahm Jolly seine erste RCA-Session auf, wie auch jene vom 5. März im Trio mit Counce und Manne, für die dritte Session vom 6. März stiessen auch Rogers, Giuffre sowie Howard Roberts hinzu und Jolly spielte Akkordeon. Das resultierende Album hiess „Jolly Jumps In“ (RCA LPM-1105). An den drei folgenden Tagen stand Jolly erneut im Studio, dieses Mal aber im Duo mit Buddy Clark, im Trio mit Clark und Art Mardigan sowie im Quartett mit Clark, Mel Lewis und Bill Perkins. Das zweite Album hiess entsprechend „Duo, Trio, Quartet“ (LPM-1125).
In diesen Tagen entstand auch das Album „The Five“ (RCA LPM-1121), auf dem Perkins (ts), Jolly (p), Clark (b) und Lewis (d) mit Conte Candoli (t) in einem Dutzend Arrangements von Shorty Rogers zu hören sind, darunter Rogers-Originals (Perkin‘, I Dig Ed, Just for Judie, Forlock, I’ll Be in Scotland After You), eins von Jolly (Red Eyes) sowie ein paar Standards (Whistle While You Work, Beyond the Sea, Lullaby of the Leaves, Soft as Spring, If I Love Again, Pushin‘ Sand). Die Stücke sind allesamt kurz (das längste dauert gerade mal 3:14, das kürzeste 2:28) und lassen der tollen Band nicht sehr viel Raum – aber Candoli spielt mit Feuer, Perkins bietet den perfekten Gegenpol, Jolly explodiert in alle Richtungen… unklar ist, von wann die Aufnahmen stammen. Bruyninckx schreibt „c. March 9, 1955“, während Jordi Pujol in den Liner Notes zur Jolly-CD „Quartet, Quintet & Sextet“ eine andere Geschichte erzählt (sie versammelt die Quartett-Session von LPM-1125, das ganze „The Five“, die EP „Pete Jolly Sextet“, EPA-629, von deren vier Stücken drei auch auf LPM-1105 landeten, sowie ein einzelnes Stück von Jollys Auftritt an der „Stars of Jazz“ TV-Show im Juni 1956 [Bruyninckx sagt allerdings Juni 1957]).
Gemäss Pujol hätte Rogers mit zwölf Arrangements auftauchen sollen, hatte aber nur eins dabei und schrieb das zweite, während die Band das erste aufnahm, dann das dritte, als die Band beim zweiten war – und so ging es gemäss Pujol über drei Tage weiter, bis am Ende die zwölf Arrangements fertig und eingespielt waren. Als Daten gibt Pujol dann aber den 10. und 11. März an… kombiniert mit Bruyninckx‘ 9. März wären wir so bei drei Tagen, hätten also am 1. und 3. März die Atlantic-Sessions von Rogers, am 4., 5. und 6. März die Sessions für „Jolly Jumps In“, am 7., 8. und 9. die Sessions für „Duo, Trio, Quartet“ und am 9., 10. und 11. jene für „The Five“. Ist ja nicht so wichtig, aber auf jeden Fall ist Jolly förmlich explodiert an diesen ersten Tagen im Studio!
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*) Andrzej Stasiuk: „Ein alter Apparatschik verkleidet sich als amerikanischer Sheriff und kassiert den ganzen Einsatz.“ (aus: „Auf dem Weg nach Babadag“, Frankfurt am Main 2005, S. 152f.)
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