Antwort auf: McCoy Tyner – The Real McCoy!

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gypsy-tail-wind
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Die lange Bahnfahrt durch die Bündner Berge nach St. Moritz – die Bahnstrecke gehört zum Unesco-Welterbe – ist immer wieder eine stimmige und angemessen langsame Annäherung an die Konzerte am Festival da Jazz. Gestern abend trat im einst von Gunter Sachs gegründeten, heute von seinem Sohn Rolf geleiteten, Dracula’s Ghost Rider’s Club das Quartett des grossen McCoy Tyner auf. Der Rahmen ist klein, beinahe intim – ich sass einen halben Meter neben Tyner an der Bar und hatte während des ganzen Konzertes einen guten Blick auf seine erstaunlich flinken Hände. Wie er langsam hereinkommt und sich den Weg zum Flügel bahnt, sieht man einen alten, zerbrechlich wirkenden Mann – aber sitzt er erst einmal am Flügel, greift er mit grosser Energie und noch grösserer Freude in die Tasten und entlockt dem Instrument Töne, wie wir sie von ihm seit einem halben Jahrhundert lieben – Töne, die ihn berühmt gemacht haben, als er mit 21 Jahren im Quartett von John Coltrane zu spielen begann.

Tyners Quartett bestand aus seinem langjährigen Weggefährten Gary Bartz am Alt- und Sopransaxophon, dem Bassisten Gerald Cannon, sowie Joe Farnsworth am Schlagzeug. Tyner spielte energiegeladen und kraftvoll, die Bälle zwischen Cannon und Farnsworth flogen schnell, immer wieder lachten die Musiker sich an, von ihrem eigenen Schalk überrascht. Auch Tyner und Bartz hatten während des etwa 90-minüten Konzertes immer wieder Augenkontakt und freuten sich über die Musik, die sie gemeinsam im Augenblick entstehen liessen – es scheint keine allzu verbindliche Setlist zu gegen, daher gab’s hie und da kurze Absprachen oder Ansagen von Tyner und Bartz. Auf halbem Wege hiess Tyner Bartz, sich zurückzuziehen, und spielte im Trio einen alten Jazz-Standard (ich weiss leider nicht, wie er heisst, obwohl ich ihn kenne). Nach Bartz‘ Rückkehr folgte unter anderem eine tolle Version des „Blues on the Corner“ (von Tyners erstem grossen Klassiker „The Real McCoy“, 1967 für Blue Note eingespielt) und ganz am Ende – als Zugabe – ein wunderschönes Solo von Tyner.

Das Konzert bestand zum grössten Teil aus Tyner-Originals. Die für seine Musik so typischen Elemente waren alle zu hören: die starke linke Hand, die eingänige Ostinati hämmert, oft in dichtem Zusammenspiel mit dem Bass und den rhythmischen Geweben der Drums. Es gab elegant fliessende aber rhythmisch vertrackte Latin-Rhythmen zu hören, Tyner durchbrach seine Riffs und Ostinati immer wieder mit rasanten Linien und streckenweise sehr frei anmutenden Läufen voller waghalsiger Sprünge und rhythmischer Verschiebungen.

Dann erhob er sich unsicher und wurde vom Tastenlöwen wieder zum alten Mann, dessen Beine nicht mehr so sicher auf dem Boden stehen, der in seiner Musik stets so klar zu fühlen ist – die Musik ist absolut geerdet und genau deswegen kann Tyner es sich erlauben, zu seinen kürzeren und längeren Ausflügen abzuheben. Ganz ähnlich mit Gary Bartz: vom einfachsten, reinsten Blues bis hin zu ekstatischen, an Coltrane gemahnenden Höhenflügen, war alles zu hören an diesem Abend. Am Sopransax gab’s einige Unsicherheiten, gegen Ende gab’s zwischen Bartz und dem Trio auch im Zusammenspiel ein paar unsichere Momente, aber der Freude der vier Musiker tat dies keinen Abbruch. Das Publikum war zum grossen Teil sowieso gefesselt und spendete üppigen Applaus und zum Abschluss eine standing ovation. Gerade in der Solo-Zugabe war es wunderbar zu sehen, wie Tyner am Klavier auflebt, mit dem Instrument eins wird und scheinbar alles damit anstellen kann – der alte Mann und das Klavier. Ein sehr rührender, musikalisch reicher und auch für mich persönlich bereichernder Abend. Es ist immer etwas besonderes, Legenden aus einer vergangenen Zeit erleben zu dürfen – und noch schöner ist es, wenn die Musik so toll ist wie gestern bei McCoy Tyner!

Im Anschluss gab’s in der Miles Davis Lounge Hotel Kulm den Auftakt der dieses Jahr erstmals stattfindenden Round-Midnight-Concerts (der Eintritt ist frei). Es spielte gestern zum Auftakt die Claude Diallo Situation, das Trio des sehr talentierten Pianisten Claude Diallo mit Laurent Salzard am Elektrobass und Massimo Buonanno an den Drums. Das Konzert zeigte, wie toll Live-Musik als Hintergrund in einer Bar sein kann (jenseits von Barpianisten… das gestrige Exemplar im Kulm schlug mich vorübergehend in die Flucht, heraus ins Freie in die kühle Bergluft), aber es wurde auch klar, wie schwierig es – gerade für einen Pianisten – ist, nach einem so schönen Konzert wie jenem von McCoy Tyner, überhaupt noch weiter Musik zu machen (und zu hören). Es gibt Momente, in denen nichts mehr ist, Stille mehr als Musik – selbst wenn diese wie gestern durchaus gut ist. Dennoch wünsche ich der Reihe einen guten Start und bin auch überzeugt, dass der Start gelingen wird – mit Gruppen wie jenen von Marc Perrenoud oder Nicole Johänntgens „Dolphin“, Sängerinnen wie Lea Lu oder Corin Curschellas, dem musikalischen Urgestein Hans Hassler und vielen anderen.

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