Re: 31.01.2010

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nail75

Registriert seit: 16.10.2006

Beiträge: 44,729

@wolfgang: Deinen Aussagen zum Heft und zur Musikjournalistik im Allgemeinen stimme ich vollkommen zu. Nicht jeder Artikel kann kluge Gedanken oder bahnbrechende Erkenntnisse enthalten. Und es ist unfair, im Vorhinein Themen zu verurteilen, ohne die Berichte vorher gelesen haben. Was ich mir vom RS wünsche, ist eine gute Balance zwischen Artikeln über aktuelle Musik und rückblickenden Betrachtungen. Der „historische“ Teil des RS gehört aber dazu – den zu streichen wäre bedauerlich.

Damit komme ich zu folgender Aussage, auf die etwas Ausführlicher eingehen möchte:

In Anbetracht der ohnehin auseinanderdriftenden Galaxien Heft und Forum, im Wissen um diese immer ärgerlichere Dichotomie, ist Dein Schritt ein eher bedauerlicher. Was dieses Forum verbindet, so meine anfänglich naive Annahme, sei der „Rolling Stone“. Das hat sich weitgehend erledigt, fürchte ich. Was aber ist der Kitt, wenn nicht gemeinsame Lektüre? Man könne davon ausgehen, daß alle, die sich im Forum anmeldeten, irgendwie musikinteressiert seien, schrieb mal einer. Sicher, irgendwie schon. Aber bei den meisten reicht das Interesse gerade mal für’s Internet. Ahnungslosigkeit, via YouTube kaschiert und treuherzig Wiki-fundiert. Man legt und folgt Links, meinungsbildend. Das ist kein Kitt, sondern Suhlen in Affirmation.

Das sehe ich vollkommen anders. Die Menschen im Rolling Stone Forum verbindet mehrheitlich nicht der Konsens, sondern der Dissens, der Widerspruch und die Kontroverse. Wer hier herkommt, um „Affirmation“ zu bekommen, der wird feststellen, dass es die nur in Verbindung mit einer Menge Dissens und unterschiedlichen Auffassungen gibt. Und das betrifft jeden gleichermaßen.

In den Threads zu kontroversen Alben finden sich die verschiedensten Meinungen, manche gut begründet, andere weniger. Aber meistens entsteht eine sinnvolle Diskussion mit begründeten Argumenten. Manche können das bessere als andere und nicht alle schätzen es, wenn man ihre Meinung hinterfragt, aber viele tun das eben doch. Lies Dir doch zum Beispiel die Diskussion über Freddie Hubbard und andere Jazz-Trompeter durch („Die besten Impulse-Alben“) oder die inzwischen drei Diskussionen in der Track-Arena oder die Diskussion zu aktuellen Alben von Owen Pallett, Get Well Soon, Tocotronic oder Massive Attack. Und das sind nur Beispiele.

Man findet hier in der Tat zahlreiche Leute, die auf gleicher Wellenlänge liegen, aber man findet genauso viele, mit denen man nur wenig teilt. Und dann bemerkt man, dass man mit ihnen dennoch etwas teilt und das das Interesse an begründeten Meinungen, an Zusammenhängen, an Kontext. Niemand hier ist zufrieden, Musik nur zu hören, fast alle wollen auch darüber reden, darüber diskutieren, darüber streiten. Das ist es was das Rolling Stone Forum ausmacht.

Solange der Rolling Stone diese Herangehensweise verkörpert, wird er auch gelesen. Allerdings scheint der Inhalt, der auf einer kritischen Herangehensweise basiert, stetig abzunehmen. Das ist eine besorgniserregende Entwicklung, die hoffentlich bald umgekehrt wird. Die Leute im Rolling Stone Forum jedenfalls wollen gerade diese kritische Herangehensweise.

Ein Wort noch zum Internet: Das Internet ist wie das Internet ist, es besteht aus Links und Meinungsäußerungen, fundiert oder nicht und niemand wird es ändern können. Es macht schlichtweg keinen Sinn sich über Wikipedia-Artikel oder Youtube-Links aufzuregen, auch wenn das nicht Deine Welt ist. Als ich gestern abend den Miles Davis Auftritt von 1973 bei Youtube entdeckte, war ich geplättet vor Begeisterung. Ich würde das nicht missen wollen – aber ich muss es ja auch nicht. Der Nachteil des demokratischen Internets ist natürlich, daß jeder auch Unsinn schreiben kann. Aber in der Regel erfolgt dann Widerspruch – zumindest im Rolling Stone Forum. Das gegenseitige Geben und Nehmen ist ein Teil des Prozesses.

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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.