Startseite › Foren › Die Tonträger: Aktuell und Antiquariat › Aktuelle Platten › Joanna Newsom – Have One On Me › Re: Joanna Newsom – Have One On Me
Wie ich schon mehrfach zu erläutern versucht habe, ist der Glaube an die Möglichkeit einer „empirischen“ Beurteilung von Musik ein grundsätzlicher Irrtum.
Als Individuum ist man nicht in der Lage, objektiv zu urteilen, auch nicht wenn man eine Milliarde Platten gehört hat und sein ganzes Leben der Musik gewidmet hat. Man kennt natürlich viel mehr und kann viel profunderer Weise über Musik urteilen, als jemand der nur 20 Bravo-Hits CDs sein Eigen nennt, aber prinzipiell ist das Inviduum niemals objektiv.
Nun diskutiert der Musikkritiker oder auch ein Forumsmitglied nicht in einem luftleeren Raum, sondern in der Öffentlichkeit. Das heißt, die Urteile von Einzelnen sind Teile eines gesellschaftlichen Diskurses über Musik. Der beinhaltet sowohl eine Debatte über Inhalte, bildet aber auch gesellschaftliche Strukturen und auch Machtverhältnisse ab. Er grenzt aus und schließt ein, so wie alles Diskurse. (Wer das mal ausprobieren will, melde sich mit einem Zweitnick an und bekunde seine Begeisterung über Wolfgang Petry in verschiedenen Threads).
Individuelle Urteile über Musik machen nur als öffentliche Verlautbarungen Sinn. Es ist für den individuellen Musikgenuss doch vollkommen unerheblich, warum ich Musik mag. Interessant wird es nur dann, wenn ich mich in die Öffentlichkeit begebe und mein Urteil öffentlich begründen muss. Dann werde ich Teil eines gesellschaftlichen Diskurses über Musik, den ich vielleicht mitgestalten kann, der aber gleichzeitig auf mich zurückwirkt. (Letztlich macht auch der Blues Rocker mit Lederjacke oder der Punk-Rocker mit Sicherheitsnadel nichts anderes)
Sofern das verständlich war, sollte es dadurch klar sein, dass die Bedeutung von Musik nicht außerhalb dieses musikalischen Diskurses entsteht. Musik besitzt nur Bedeutung durch den gesellschaftlichen Kontext, den sie gewinnt. Durch den Diskurs über Musik bildet sich eine Mehrheits- und eine Minderheitsmeinung. In der Mehrheitsmeinung ist beispielsweise Dylan einer der prägenden Musiker des 20. Jahrhunderts. Die Minderheitsmeinung bestreitet das, aber keine der beiden Bedeutungen ist „richtig“ oder „falsch“. Beide sind aber gleichermaßen Teil desselben Diskurses über Musik, der sich stets fortentwickelt, sich immer wieder selbst neu erfindet und sich in anderen Erscheinungsformen manifestiert.
Zusatz: Es gibt natürlich auch zahlreiche passive Teilnehmer an diesem Musikdiskurs. Jeder passive Teilnehmer kann aber auch zu einem aktiven Akteur werden, beispielsweise durch einen Forumsbeitrag.
Die Aussage
Ich lehne z.B. jegliche Musik ab, die mit Mitteln arbeitet, den Hörer für dumm zu verkaufen.
ist ja ein offensichtliches Werturteil. Es ist nun nachvollziehbar, dass es sehr unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, ob Musik den Hörer für dumm verkaufen will oder einfach nur von dummen Menschen gemacht ist oder das gar nicht beabsichtigt und nur den Eindruck bei diesem einen Hörer erweckt. Wenn man sich öffentlich über Musik äußert, kann man den existierenden Diskursen über Musik nicht entrinnen.
Auch wenn man allzu persönlich Intimes oder Innerlichkeit in der Kunst z.B. ablehnt, muss man doch akzeptieren, dass eine solche bei Drake zu einer musikalischen Form gefunden hat, die kaum besser zu machen wäre.
Genauso kann ich Drake einen depressiven Verlierer nennen, der im Keller seiner Eltern vor sich hin vergammelt ist. Indem ich das aber tue, vertrete ich im herrschenden Musikdiskurs eine Mindermeinung, die ich vermutlich sehr viel aufwändiger rechtfertigen muss als die gegenteilige Behauptung.
--
Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.