Re: The Chicago Sound

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redbeansandrice

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in Sachen Retro… da ich das Konzert (noch) nicht gehört hab, tu ich jetzt mal so, als hättest du dich auf das erste People, Places and Things Album Proliferation bezogen, das mir am präsentesten ist… hier also ein plädoyer für

Mike Reed’s People Places and Things – Proliferation

482 Music, 2008
Tim Haldeman (tenor sax, percussion, piano), Mike Reed (drums, piano), Jason Roebke (bass, percussion, piano), Greg Ward (alto saxophone, percussion, piano)

Aus meiner Sicht greift der Retro-Vorwurf nur dann, wenn ein Album auch schon in irgendeinem früheren Jahrzehnt hätte erscheinen können, und so richtig schlimm nur dann, wenn es genau solche Alben damals auch wirklich gegeben hat… Selbst wenn ich ganz fest an Pithecatropus Erectus von Mingus denke, kann ich das bei Proliferation nicht hören. Klar, der Bezugspunkt liegt – wie sie selbst sagen – in Chicago 1954-1960… aber die Musik hört sich für mich nicht an, als käme sie aus dieser Zeit… mal ganz vordergründig, die Saxophonisten, halten ihre Ayler Einflüsse dezent (es gibt sie – etwa Teile der Tenorbegleitung im Altsaxophonsolo bei Sleepy…), aber schon die Tatsache, dass die meisten Soli der beiden Saxophonisten parallel stattfinden hebt die Musik ein gutes Stück vom Hard Bop Mainstream ab… Ist wohl auch das Konzept, siehe das Zitat, das Thelonica oben schon gegeben hat: „Since there’s no piano player, if one of the horn players is soloing, the other one acts as the piano player and comps behind him. If the guy who’s comping gets excited, he can take it, and they’ll switch back and forth like that. I always hate it when a horn player takes a solo and then he steps aside. And this way, people have to be engaged all the time.“

Jetzt kann man sagen, der Hard Bop ist doch uralt – aber das ist der Free Jazz letztlich auch, fünfziger oder sechziger Jahre, das macht nicht mehr so viel aus, find ich…, neues zum Free Jazz beizutragen ist nicht weniger retro als neues zum Hard Bop beizutragen. Irgendwie hab ich das Gefühl es geht hier darum, sich eine neue Nische im progressiven Hard Bop zu erspielen, ähnlich den Nischen, die sich Jackie McLean, Andrew Hill, John Patton damals mit ihren progressiveren Blue Note Alben erspielt haben… Eine ähnliche Agenda könnte man auch anderen Alben aus dem Umfeld der „New Austin High School Gang“ zu der Haldeman gehört unterstellen, Jason Ajemian’s sehr schönem The Art of Dying etwa. Den Chicagoer Hard Bop als Grundlage hierfür zu nehmen, mit seiner Saxophonseligkeit, seinen Dissonanzen, den bluesigen und doch raffinierten Themen, seiner vergleichsweise großen „street credibility“, die sich in Leuten wie Von Freeman oder Fred Anderson durch die Jahrzehnte gerettet hat… das sieht mir wie eine sehr gute Idee aus… klar, solche Alben hätte es vielleicht in den sechziger Jahren geben können – aber de facto hat es sie soweit ich weiß nicht gegeben… wie du (ich leg es dir halb in den Mund) richtig sagst, steht dieser Behauptung im wesentlichen das Werk von Von Freeman entgegen, das hier auf jeden Fall noch den einen oder anderen Post verdient hat… Die Art wie hier mit Saxophonklangfarben, Intonation gearbeitet wird, grad auch von Haldeman, erinnert sicherlich an Von Freeman… aber soweit ich das Überblicke hat Freeman nie in so einem Kontext gearbeitet, mit mehreren verwobenen Saxophonstimmen, Wechseln zwischen arrangierten und improvisierten Passagen… ich find das hier ist sehr schöne Musik und sie hat definitiv ihren Platz verdient… Eine Aufforderung an alle, mal die Version von Sleepy auf Proliferation kritisch gegen das Original zu hören… Das Original war das Signature Stück der MJT+3 (siehe Frank Strozier Post), es ist eine bemerkenswert komplexe, abstrakte Komposition – jedenfalls gemessen daran, dass es quasi ein Konkurrenzbeitrag zu Sachen wie Dis Here von Cannonball Adderley war… das Altsaxophonsolo von Frank Strozier ist wunderbar bluesig mit kleinen Raffinessen, die anderen Soli fallen vielleicht ein bißchen ab… die Mike Reed Version spielt für meine Begriffe vielleicht zunächst mal ein bißchen viel von der Eleganz zu Gunsten von erhöhter Bluesigkeit kaputt… aber das ist mehr eine subtile Frage der Leichtfüßig-Schwerfüßig-Balance, die in dem Stück eine große Rolle spielt… das hier ist insgesamt schwerfüßiger, Reeds Schlagzeug illustriert und (vor allem) betont viel mehr, als dass es einen stetigen Puls gibt, das Duett der Saxophone braucht eine Weile bis es mich erreicht, aber wenn es erstmal da ist, ist es mächtig überzeugend, eine viel unmittelbarere Bluesigkeit als im Original, und der Mut zur Hässlichkeit, der mir im Hard Bop jenseits von Mingus und Freeman viel zu oft fehlt… für meine Begriffe ist noch Platz in der Welt für diese Musik…

Streams des Albums gibt es (mit kleinen Lücken) auf Reeds Homepage und (komplett) bei lastfm. Das Original von Sleepy kann man hier hören.

Auf der oben schon verlinkten Labelseite von 482 music kann man noch einiges mehr erfahren, überhaupt ein tolles Label, wenn man sich für den Jazz aus Chicago interessiert…

Mittlerweile gibt es noch zwei weitere Alben von People Places and Things, About Us und (noch nicht erschienen aber auf Reeds Homepage schon zu hören) Stories & Negotiations. Auf letzterem wird die Band hochkarätig erweitert um Ira Sullivan, Art Hoyle, Julian Priester und Jeb Bishop. Wie Thelonica oben schon angekündigt hat, ist die Band im April in Europa (leider mit Ari Brown statt Sullivan…)

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