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Heidrun Hegewald: Kassandra sieht ein Schlangenei (1981).
Acryl auf Leinen (135×155 cm)
»Kassandra sieht ein Schlangenei« nannte Heidrun Hegewald ihr eindringliches Gemälde. Um den tiefen, menschenbezogenen Sinn des Dargestellten zu ergründen, ist unser Wissen über antike und christliche Mythologie ebenso gefragt wie unsere Fähigkeit, die Symbolik ganz gegenwärtiger Dinge zu erfassen. Von den 70er bis zum Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts tauchte die tragische Frauengestalt Kassandra in den Künsten der DDR, nach Heidrun Hegewald auch bei Christa Wolf, immer wieder auf – als Warnerin vor einer nuklearen Katastrophe, als Mahnerin, die offensichtlichen Widersprüche der eigenen Entwicklung bei Strafe des Untergangs nicht zu überdecken. In der Überlieferung konnte Kassandra Künftiges richtig voraussagen, doch niemand glaubte ihr. Dieses Bild, 1981 entstanden, ist ein Appell gegen immanenten und aufkommenden Faschismus, gegen die Vision eines totalen Weltenbrandes, ist eine ästhetische und intellektuelle Provokation. In einem fahlen, verheißungsvollen Licht erkennt man den Hurraschrei eines Glatzköpfigen, das gläubige, faszinierte Aufblicken einer Schwangeren. Stärker farbig akzentuiert, kleinwüchsig, flachköpfig, ledergeschnürt, die Augen unter einer SA-Mütze verborgen, trägt ein eigenartiges Mischwesen aus Mann und Frau mit dem Gesicht eines Hitler ein Schlangenei ins Bild. Noch zwängt sich die Schlange in die zum Zerreißen gespannte, durchsichtige Haut. Bald wird sie Unheil verbreiten und mit hypnotischer Energie Doppelzüngigkeit und Hinterlist in die Welt bringen. Ihr giftiger Biß wird die Menschen willenlos machen und ihr kritisches Denken lähmen. Niemand erkennt die Gefahr. Der Schrei der Kassandra verhallt ungehört. Der Massenwahnsinn ist stärker als die Weissagung der künftigen Katastrophe. Kassandra weiß um die Nutzlosigkeit ihres Tuns, doch sie kann nicht anders; sie muß ihrer Verantwortung gerecht werden. Mit einer Schutzgeste verhindert sie, daß das Kind auf ihrem Arm das Verderben bringende Schlangenei wahrnimmt. Es hält in der Hand einen Papierkranich, wie ihn das japanische Mädchen Sadako Sasaki hundertfach faltete, bevor es an den Folgen der Atombombenabwürfe starb. Diese Malerei ist anschauliches Denken; erwartet wird, daß der Betrachter solcherart Herausforderung annimmt. Ästhetisches und Ethisches konkretisieren sich im Bild als weltanschauliches Bekenntnis.

Willi Sitte: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und Freiheit (1973/74).
Triptychon mit Predella. (Mitteltafel: 275×125 cm, Seitentafeln: 275×125 cm, Predella 125×275 cm)
Willi Sitte malte es nach dem Ende des Vietnamkrieges und nach dem blutigen Putsch Pinochets in Chile, aber er schlug einen weiten Bogen in Geschichte und Gegenwart, um Menschenrechte einzuklagen und ihren Mißbrauch anzuprangern. Dafür nutzte er die sakrale Pathosform des Triptychons und seine Erfahrungen in der Simultanmalerei. Auf der Mitteltafel wird ein Vietnamese – mit verbundenen Augen an ein Kreuz gebunden wie an einen Pfahl – zum Gleichnis für ein geschundenes Volk. Er hängt weit nach vorn und ringt mit dem Tod. Doch die innere Spannung seines Körpers macht ihn zum Symbol kraftvollen Widerstands. Die abwehrende Geste eines abgeschossenen US-amerikanischen Piloten, der mit gekreuzten Armen die Augen vor seiner Schuld, vor seinem Verbrechen verschließt, wirkt hilflos. Sein Mordwerkzeug ist zerstört. Die Bildtafel brennt in den Farben des Infernos, und diese flammenden Farben wirken in die anderen Bildtafeln hinein. Hinweise auf die Anklagebank der Nürnberger Prozesse, auf die zerschlagene Gitarre Victor Jaras, auf Menschenversuche und Folter, auf die Zerstörung kultureller Werte provozieren auf der linken Seitentafel die ganz aktuelle Forderung nach der Notwendigkeit von Kriegsverbrechertribunalen nach dem NATO-Überfall auf Jugoslawien, nach massenhaften »Kollateralschäden« – auch in Afghanistan heute, wo erst vor wenigen Wochen, am 4. September, in der Nähe von Kundus Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder, auf Anforderung eines deutschen Oberst von Bomben zerfetzt wurden und verbrannten. Im unteren Teil der rechten Tafel quillt aus dem Leib eines umgestürzten Trojanischen Pferdes sein todbringender Inhalt. »Friedensmission« nannte sich der Mord an friedlichen Menschen bei der Bombardierung der Brücke von Varvarin. Die Predella beschwört noch einmal das grausige Ende des deutschen Faschismus. Das Bild erzwingt Gedankenketten, wie sie uns ständig beschäftigen. Es ist heute so zeitgemäß wie damals.

Walter Womacka: Verwundeter Stier (1997).
Öl auf Leinwand (114×144 cm)
Walter Womackas Gemälde »Verwundeter Stier« existiert in mehreren Varianten. In dieser Fassung von 1997 wird die ganze Tragweite des gesellschaftlichen Umbruchs von 1989/90 unmittelbar erlebbar. Eine zerfetzte Zeitung mit einem Foto Gorbatschows ist zu sehen, in einer wild bewegten Zuschauermenge das Porträt Che Guevaras, eine Coca-Cola-Werbung, der Tanz um das Goldene Kalb, Zeichen der Vermarktung von Liebe und Sexualität, eine Gruppe bewaffneter Polizisten. Im Zentrum aber drängt sich keilförmig ein Stier unserer Blickrichtung entgegen. Er kämpft nicht mehr und gibt sein Leben auf. Noch steht er. Unter den Banderillas strömt Blut aus seinem Nacken. Maul und Nüstern triefen. Die Muleta reizt ihn nicht mehr. Der Tod wird ihm zur Erlösung. Schwer und schwarz wartet er auf den Degen, den ihm der Espada frontal zwischen die Schulterblätter stoßen wird. Die gesichtslose Masse hinter der sicheren Bande tobt. Aus der Erinnerung steigt wieder Picassos »Guernica« auf. Dort erhebt sich ein Stier wie ein schützender Fels über einer verzweifelt schreienden Mutter, in deren Händen ein totes Kind hängt. Seit 1937 hat der Stier seine vorwiegend mythische Bedeutung erweitert. Er wurde zum Topos für ein verletztes, aber nicht erniedrigtes Volk. Und Walter Womacka griff genau 60 Jahre später erneut zu diesem Zeichen. Ein solch sorgenvoller, bis zur Bitternis reichender Grundton liegt über vielen Arbeiten, die er in den letzten beiden Jahrzehnten schuf. Jene, die ihn als Schönmaler abwerten wollen, sollten genauer hinsehen. Vieles weist nun stärker in ein Erschrecken, in Nachdenklichkeit über Gefährdungen, über das Scheitern von Hoffnungen und in direkte, für wache Sinne entschlüsselbare Warnungen.
..hoffe das ist hier nicht ganz falsch gepostet.
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five to seven