Re: 06.12.2009

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wolfgang-doebeling
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KICKS ON 45 & 33

Registriert seit: 08.07.2002

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Sonic JuiceIch habe durchaus ausgeprägte Sympathie für die gestern gespielten Tracks (bin mittlerweile bis zum Ende der ersten Stunde vorgedrungen) und kann mir auch vorstellen, bei Gelegenheit weitere Singles zuzulegen (die mir sicherlich noch mal ein anderes Erlebnis bescheren als über den Stream), das Einzigartige kann ich allerdings noch nicht raushören. Vielleicht kommt die Erkenntnis noch, ich höre da aber derzeit, gerade bei den flotteren Nummern, vornehmlich eine Adaption amerikanischer Vorbilder. Der Gruppensound ist sicherlich beachtlich, ich muss aber zugegeben, dass mir nach wie vor dutzende Rockabilly- oder Rock’n’Roll-Bands aus den USA wichtiger sind. Vermutlich kann ich den späteren Richard nicht ganz ausblenden, aber mir kommt das alles vergleichsweise harmlos und freundlich vor und das Bedrohliche, Sexuelle, Brodelnde und Rebellische (oder sagen wir einfach: das Charisma) eines Johnny Burnette, Gene Vincent, Chuck Berry, Eddie Cochran etc. fehlt mir. Und wenn es um einen popnäheren Sound geht, würde ich jedederzeit Rick(y) Nelson oder den späteren Johnny Burnette bevorzugen. Es mag auch am Songwriting liegen, denn selbst die Attraktion von „Move It!“ liegt für mich eher in der Interpretation als in einer etwaigen herausragenden Komposition begründet.

Fair enough, Sonic Juice. Es wird viele Nachgeborene geben, die das so sehen und hören. Und nicht unbedingt nur die Behämmertsten. Dennoch ein paar Anmerkungen aus Sicht eines Fans, der im zarten Alter von 10, 11, 12 Jahren mit Rock’n’Roll infiziert wurde (eine längst chronische und sowieso unheilbare Malaise). Von Cliff, Elvis und Wanda Jackson. In dieser Reihenfolge. „Dynamite“, „I Got Stung“, „Let’s Have A Party“. Kicks on 45. Explosionen und Eruptionen in der miefig-piefigen bundesdeutschen Wirklchkeit. Memphis, New York, London? Gleichviel. Es waren Antithesen zu dem, was uns das traute Heim und das Radio bescherte. Inclusive AFN! Denn in Amerika war Rock’n’Roll ja kein Thema mehr. Dort beherrschte seit Ende 1958 bereits eine popmusikalische Reaktion die Charts: weiche Welle. Die Bobbys und Connies. Und der Twist. Aktuell wußte Elvis „It’s Now Or Never“ und fragte „Are You Lonesome Tonight?“, Rock’n’Roll fand kaum mehr statt. Doch, halt! Da war diese Live-LP von Cliff Richard & The Drifters. Kam in England schon ’59 raus, aber für uns war das ’60 das schärfste Ding überhaupt. „Ready Teddy“ raste! Jede andere Version klang daneben torpid. Die Girls kreischten. Wir drehten den Volume-Regler bis zum Anschlag. Sofern wir durften. Wild war’s! Soviel Brodelndes, Sexuelles, Bedrohliches, Rebellisches und, aber ja doch!, Charismatisches war nie. Der Typ war 18, sang fantastisch, sah cool aus und hatte diese Band, diesen Sound, den wir so liebten. Einen Sound wie keine andere Band auf der Welt. Dachten wir damals. Heute wissen wir es.

Sicher, auch Duane Eddy und die Ventures klangen großartig, aber die Shadows hatten ihre ganz eigene Klangdimension, diese Fender-Magie, in der Echo und Tremolo ihren optimalen Raum hatten, nie aufgesetzt oder effekthascherisch wirkten, immer spot on. Eddys Twang war fetter, aber fast Novelty-verdächtig. Eine prima Masche, aber eben eine Masche. The Shadows hatten nichts dergleichen, nur Brillanz. Und Ökonomie. Melodiedienliches, rhythmisch diszipliniertes und gerade deswegen aufregendes Spiel. Wenn die Magie im Moment liegt, hatten Cliff & The Shads unzählige dieser Momente.

Wohlgemerkt: zu einem Zeitpunkt, als die Rock’n’Roll-Chose durch war. Gene Vincent spielte inzwischen (wieder) in kleinen Clubs, Eddie Cochran war tot, Chuck Berry war weg vom Fenster und tauchte erst ’64 wieder auf, Ricky war nun Rick und flirtete mit einer Mary Lou, Johnnys Rock’n’Roll Trio war Jahre davor in die Binsen gegangen, ohne daß es jemand bemerkt hätte. Nicht einmal in Amerika. Und seine Solo-Hits, die wir auf AFN gern hörten, Du weißt schon: „Dreamin'“, „You’re Sixteen“, „Little Boy Sad“, waren an Harmlosigkeit, Freundlichkeit und Teen-Schmiegsamkeit kaum zu überbieten. Ähnlich wie Cliffs „Living Doll“. Doch der hatte, anders als Johnny, noch ganz andere Kaliber am Start, etwa auf „Me And My Shadows“. Tracks wie „She’s Gone“ oder „Choppin‘ ‚N‘ Changin'“ waren das heißeste, mitreißendste, was das Jahr 1960 überhaupt zu bieten hatte. Nur einer konnte da mithalten. Billy Fury aus Liverpool. Kein Amerikaner, denn deren noch aktive Rock’n’Roller wie Jack Scott oder Jerry Lee Lewis schwammen durchweg erfolgreich auf besagter weichen Welle, Jack mit Teen-Pop und Jerry Lee mit Country-Schmachtfetzen, oder fristeten wie Charlie Feathers ihr Dasein mit wochenlangen Engagements in provinziellen Dancehalls. Carl Perkins war medial nicht existent, Roy Orbison balladierte, Little Richard gospelte. Die Ungleichzeitigkeit der Pop-Evolution in Amerika und England war es also, die Cliff & seine Shads so virulent machten für uns, 1960.

Dann holte die Entwicklung in Richtung safer Pop auch Cliff und Billy ein, ganz schnell, beinahe über Nacht. Im RC war neulich ein lesenswerter Artikel titels „The Year Cliff Rocked“, worin diese Dynamik ganz gut beschrieben wurde. Wenn die Charts voller Nettigkeiten sind, ist der Zugzwang übermächtig. Ein duales System wurde von Columbia implementiert, wonach auf Flipsides oder EP-Tracks noch gerockt werden durfte, während die A-Seiten tendentiell den Balladen und Beat-Nummern vorbehalten blieb. Ein paar Ausnahmen wie „It’ll Be Me“ bestätigen diese Regel. Decca tat dasselbe mit Billy Fury, und so wurde 1962 im UK auch bereits mehr gecroont als gebopt. Was sich ebenfalls veränderte, war der Shadows-Sound, nun nicht mehr so dynamisch, eher Rhythmus-Gitarren-geprägt. Was sich freilich nicht veränderte, war die absolute Brillanz der Produktionen von Norrie Paramor. Der ja eigentlich Orchesterleiter und Arrangeur war, aber in den Abbey Road Studios eine Raumfülle und Strahlkraft erzielte, die bis heute unerreicht blieb. George Martins frühe Arbeiten an selber Stelle nur ein, zwei, drei Jahre danach für die Beatles klingen daneben fast dumpf (so klasse sie auch waren, beeile ich mich zu versichern, bevor Clau hier Rabatz macht). Auch eine Frage der instrumentalen Integration, von der Beatgruppen zunehmend lebten. Der moderne Group-Sound fußte eher auf kollektiver Klangfülle bis hin zum Klangteppich als auf jener kristallinen, individualisierbaren, austarierten Klangbalance der Drifters und frühen Shadows. Die nach dem Weggang von Harris und Meehan also auch anders klangen: beatiger eben.

Worin ich Dir ebenfalls nicht folgen kann, SJ, ist Dein Verdikt zum Songwriting. Richtig ist, daß „Move It!“ mehr von Drive und Interpretation lebt als vom Song (wobei die um eine verlorene Strophe verlängerte Version auf der diesjährigen „Reunited“-Tour auch diesen aufwertet), aber es herrscht an großartigen Songs bei Cliff ja nun wirklich kein Mangel. „I’m The Lonely One“ oder „Travellin‘ Light“, um mal nur zwei zu nennen, suchen ihresgleichen im Pop-Kontinuum der Jahre ’59 bis ’64. I’m biased, of course.

Das bringt mich zum springenden Punkt Deiner Argumentation. „Vermutlich kann ich den späteren Richard nicht ganz ausblenden“, räumst Du ein. Darin liegt wohl das Problem für die meisten, so meine einschlägigen Erfahrungen. Der Mann wurde Christ, sang deutsch und hampelte beim Eurovision Song Contest rum, wiederholt. Kann man jemandem, der „Congratulations“ verbrochen hat, zugestehen, zehn Jahre davor stilvolle, aufregende Musik gemacht zu haben? Fällt schwer. Kleingeister wie otis‘ Plattenhändler oder dieser „Sounds“-Ahnungslose kriegen das nicht hin. Erfordert Differenzierung und genaues Hinhören, also einen Aufwand, den zu treiben Hobbyhörer gewöhnlich nicht aufbringen wollen. Es wird nach Image und Reputation vorsortiert, was unendlich traurig ist, weil man sich so vieles verbaut. Ich bin nun weiß Scott ein großer Bewunderer von Gene Vincent und seinen Blue Caps, Cliff Gallup gehört zu meinen Faves als Picker, aber so oft wie von diesen Herrschaften auf Geheiß der Plattenfirma gebremst agiert wurde, freundlich ausgedrückt, müßten sie als Rock’n’Roller eigentlich einen schlechten Ruf haben. Dasselbe gilt für Eddie Cochran und viele andere. Nur: Eddie starb, Gene verschwand in der Versenkung, während Cliff noch Jahrzehnte lang Hits produzierte, weit mehr als hundert, unüberhörbar und unübersehbar. Das Problem, mit dem nicht nur weilstein zu kämpfen hat (obwohl der sich mal bei Candy ein paar spätere Aufnahmen zu Gemüte führen sollte, dann kriegt er vielleicht noch diese scharfe Kurve). Kurzum, wären Cliff & The Shads vor knapp 50 Jahren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, würden sie heute unisono verehrt. Retrospektiven, Boxsets, Biopics, der ganze Schlunz. Wie ein in Indien geborener, herumgestoßener Junge der britische Elvis wird, gefeiert, geliebt, beneidet. Und wie er mit seinen so getreuen wie virtuosen Schatten dann den Schicksalsflieger in Manchester besteigt. Another day the music died.

No such luck.

I rest my case.

Nachtrag, weil mich diesbezüglich PNs erreichten: „Wir“ meint eine Reihe von Freunden, alle älter als ich. Mopedfahrer! Ich habe mich über diese Meinungsbildungsprozesse in früher Jugend bereits mehrfach im RS ausgelassen, daher hier nicht noch mal. Nur soviel: ich persönlich besaß keine LPs, nur Singles seinerzeit. LPs kosteten 18 Mark. Dafür bekam man 3 Singles und hatte noch genug Geld übrig für einen Kinobesuch.

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