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FAZ.netSoziale Netzwerke
Die Schelmexperten des sozialen InternetsVon Don Alphonso
18. Februar 2010 Früher reichte es aus, wenn eine Firma Produkte herstellte, sie bewarb, in den Handel brachte und verkaufte. Wenn aber eine Firma 2003 im Internet vorn sein wollte, musste sie sich beim Netzwerk „Friendster“ engagieren; 2004 konnten Dax-Konzerne ohne Blogs nicht mehr effektiv kommunizieren, 2005 sollte man sich mit der koreanischen „Cyworld“ beschäftigen, 2006 verlangten die Kunden nach Podcasts, 2007 galt es, Second Life zu erobern, Mitgliedschaften bei Facebook und Myspace waren für Firmen 2008 verpflichtend, 2009 musste getwittert werden, und 2010 wird man pleitegehen, wenn man nicht bei „Foursquare“ gelistet ist und Applikationen für das iPhone entwickelt. So zumindest schallt es aus Blogs, Interviews und von Kongresspodien hinab auf die Wirtschaft und die Medien, die sich der Revolution des sozialen Internets keinesfalls verschließen dürfen, um nicht hinweggefegt zu werden.Das sagt sich so leicht und schnell dahin, wie die Umsetzung schwer ist. Alles muss man tun, um im Internet zu überleben, es geht immer um das Überleben, und man sollte bitte keinesfalls auf die anderen Fälle zurückblicken, wo es auch um das Überleben ging, zum Scheitern von Friendster und Cyworld in Europa, zu den aufgegebenen Projekten bei Myspace und Second Life, zu den langweilig gewordenen Blogs, Podcasts und Twitterhaufen. Allesamt Projekte, die gut bezahlte vermeintliche Experten des sozialen Internets angeschoben haben.
Das Internet als Tupperwareparty
Derartige Experten gibt es zahlreich. Viel gehört nicht dazu, ein „Experte“ zu werden; im Prinzip reicht ein Blog und die Behauptung, Experte zu sein, und schon kann man loslegen. Bei „deutsche-startups.de“ werden genehme Erfolgsmeldungen der digitalen Wirtschaft durchgereicht, im Blog „Netzwertig“ erzählt der Marketingarbeiter Martin Weigert, was die Zukunft im Netz bringt, mit „Spreeblick“ führt Johnny Haeusler ein Blog, dessen Bekanntheit die digitale Visitenkarte für seine Beratertätigkeit ist, und auf „Carta.info“ versuchen Journalisten und Berater den deutschen Medien zu erklären, wie sie sich für die Veränderungen fit machen müssen. Es gibt, gegründet von Johnny Haeusler und dem Werber Sascha Lobo, sogar eine Werbeagentur für solche Projekte. Es gibt die Agentur VM People, die sich auf dem Markt der viralen Werbung abmüht und schon mal einen Blogger bezahlt, damit er für eine verdeckte Aktion von Microsoft auftritt. Was es allerdings nicht gibt, ist der Nachweis, dass man damit im Internet reich werden kann.
Im Gegenteil, mit oder trotz der Hilfe derartiger Experten haben Firmen wie Yahoo und Vodafone spektakuläre Pleiten ihrer Werbekampagnen im sozialen Netz erlebt. Denn die Nutzer von Twitter, Blogs und Facebook sind nicht zwingend kritiklose Konsumenten, sondern oft kritisch, sie reagieren genervt, wenn Firmen versuchen, sich in ihren sozialen Kontakten breitzumachen. Die Vorstellung des sozialen Internets als gigantische Tupperwareparty, wo sich Menschen zu „Markenfans“ machen lassen, die frohe Kunde ihren Freunden weitersagen, ist eine Hoffnung geblieben. Statt sich zum Helfer machen zu lassen, tendieren manche dazu, den Firmen Fehlleistungen vorzuhalten. Bei Yahoo war es der Verrat chinesischer Dissidenten an das Regime in Peking, Vodafone wurde das willfährige Verhalten bei der Einführung von Internetzensur in Deutschland zum Verhängnis. Statt Fans kaufte man sich teuren Ärger mit teuren Beratern ein.
Strategie des Nichtskönners
Um zu verstehen, wie diese Beratungswirtschaft der Internetspezialisten ohne echte wirtschaftliche Erfolge jenseits der eigenen Einnahmen funktioniert, sollte man keine Untersuchungen bemühen, sondern ins Bücherregal greifen: Dort findet man den „Gil Blas“ des französischen Autors Alain René Lesage von 1715, der die Gattung des Schelmenromans zu einem ersten Höhepunkt brachte. In diesem Werk erzählt die Hauptfigur, wie sie sich in einem korrupten und gefallsüchtigen Spanien durchzuschlagen versteht. Gil Blas ist ein Nichtskönner, mittellos und tölpelhaft, und arbeitet sich durch alle Berufe und Schichten langsam empor. Seine einzigen Qualitäten sind Flexibilität und Auffassungsgabe. Es findet sich immer ein Dummer, der Gil Blas durchfüttert, hilft, fördert und schließlich ganz nach oben bringt.
Das Spanien und das darin ebenso porträtierte Frankreich des Absolutismus, sie mögen beide verschwunden sein, aber im heutigen Berlin geht es kaum anders zu. Die Stadt hat den Ruf, kreativ zu sein, sie ist voller privater Netzwerke, und hier funktioniert, was im Internet versprochen wird: Das Selbstversichern von Relevanz, das Verlinken der immer gleichen, von allen getragenen Zukunftshoffnungen, jeder kann sich selbst verwirklichen, alle sind Stars, weil sich alle ihrer Kompetenz gegenseitig versichern.
Lob des Flatterhaften
Die Moden des Netzes kommen und gehen, soziale Netzwerke gelten als heiß und werden wieder abgestoßen, aber es ist der ewig gleiche Zirkel von Leuten, die am neuesten Hype mitwirken. Was andernorts als Unbeständigkeit gilt, gilt hier als Wandel, was andernorts als unausgereift gälte, ist hier die Betaversion, das Unsichere, Wankelmütige und Wechselhafte ist hier der Fortschritt. Bindungen, Beharrlichkeit und das Elend, neue Ideen im Zweifelsfall bis zum Erfolg bringen zu müssen, stören nur; in Berlin entscheidet das Projekt, die Umsetzung überlässt man Praktikanten, Kunden oder Leuten, die gern auch so wie die bekannten Berater des Internets wären und froh sind, für ein paar Euro zuarbeiten zu dürfen. Es ist eine Welt für Schelme in meist mittlerem Alter, die wie Gil Blas Schiffbruch erlitten haben und nun mit Dreistigkeit und Selbstmarketing anderen erzählen, wie man den Goldschatz findet.
So wurden im letzten Jahr zur Bundestagswahl den Parteien diverse Instrumente zur Überwachung ihrer Reputation bei Twitter angeboten, Blogs präsentierten sich als mietbare Plattform für politische Diskurse. Medienmacher mit Geld können sich kaum retten vor Angeboten zur Optimierung ihrer Online-Auftritte. Was den Ärzten bei Gil Blas die allheilenden Medikamente gegen Seuchen, sind den Beraterschelmen die Dienste für jene iPhones und iPads, die in Zukunft die Schnittstellen zum Nutzer sein sollen, denn „Social Media“ ist als Begriff schon zu lange im eher mauen Geschäft, nun soll es das Echtzeitnetz richten, in dem sich die Kundschaft 24 Stunden am Tag bewegt. Und für die Stars der Szene, die jeden Tag bloggen, twittern, Statusmeldungen in den Netzwerken hinterlassen und jeden billigen Dönerstand, dessen Produkte sie sich leisten können, im Netz bewerten, trifft diese allgemein gehegte Vision sicher auch zu.
Die Schule der Schelme
Solange sich alle Schelme einig sind, dass es so kommen wird, und solange Medien ihnen den nötigen Raum geben, funktioniert das System; so lange wird es in den Zeitungen stehen, und Firmen werden ihre Mitarbeiter in Tweetacademies schicken, wo sie lernen, die Ziele ihrer Firma mit 140 Zeichen ins Netz zu schicken, um dort den Respekt der Nutzer zu erhaschen. Solange sich alle Schelmexperten einig sind, dass es diese Schulung braucht, wird das Geschäft florieren, und wenn ein anderer Experte das in seinem Blog anzweifelt, darf er sich von der Academy-Referentin und „Twitterexpertin“ Nicole Simon belehren lassen: „Jemand mit Deiner Jobbeschreibung und Hierarchiestufe der nicht verstanden hat, warum es schon immer einen Bedarf für Schulungen dieser Art gegeben hat? Wow. Einfach nur wow. Da stellt sich mir die Frage wie Du für Deinen Arbeitgeber und mit Deinen Kollegen in der Lage sein willst Kunden zu beraten und unterstützen, wenn Dir noch nicht einmal die Bedürfnisse normaler Mitarbeiter verständlich sind.“
Andere verweisen darauf, dass sie dergleichen Unbotmäßigkeit gegenüber dem System der Agentur des Verräters gemeldet haben. Auch bei Gil Blas sind die schrägen Figuren, denen er helfen muss, nicht erbaut über Verrat und moralische Bedenken.
Das nächste große Ding
Nur der Charme des Gil Blas, der geht seinen Nachfolgern ab. Den Schelmenroman liest man heute mit Abstand, es tut keinem weh, wenn ein Baron von einer leichten Dame ausgenommen wird, oder ein eifersüchtiger Trottel seine Frau an einen Liebhaber verliert. In unseren Tagen jedoch ist jedes Projekt mit Kosten verbunden, und wenn die WAZ mit dem auf derartige Heilsversprechen zugeschnittenen Online-Auftritt „Derwesten“ Millionen versenkt, zahlen die normalen Mitarbeiter die Zeche. Vielleicht wäre es sinnvoller, Geld in die Verbesserung von Produkten zu stecken, anstatt Mitarbeiter zu schulen, wie sie mangelhafte Qualität über Twitter verkaufen.
All die toten Verkaufsräume bei Second Life, mit hohen Kosten entwickelt und von Experten gefordert, sind Verluste, die jeder über den Preis der Produkte zahlt. Weder wurde das Netz durch solche Versuche der Ranwanzung sozialer, noch ein schönerer Ort. Die Berater aber ziehen weiter, machen ein neues Blog auf, drucken neue Visitenkarten und heben diejenigen von Journalisten auf. Beim nächsten tollen Ding kann man sie noch mal kontaktieren. Man ist schließlich Experte, und die wird man immer brauchen.
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~ Mut ist, zu wissen, dass es weh tun kann und es trotzdem zu tun. Dummheit ist dasselbe. Und deswegen ist das Leben so schwer. ~